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Reproduktionsmedizin - 4.3 Erhebungsverfahren: Problemzentriertes Interview

4.3 Erhebungsverfahren: Problemzentriertes Interview

 

Grundpositionen und Begündung der Methodenwahl

Das von Andreas Witzel (1985) entwickelte problemzentrierte Interview (PZI) orientiert sich weitestgehend am theoriegenerierenden Verfahren der „Grounded Theory“ (Strauss 1994). Diese kritisiert eine ausschließlich deduktive Vorgehensweise, die in der quantitativen Forschung hauptsschlich angewendet wird und bei der die Daten nur durch ex ante festgelegte Operationalisierungsschritte erfasst und überprüft werden können. Daneben wird die naiv-induktivistische Position des „soziologischen Naturalismus“ bemängelt, derzufolge die Haltung des Wissenschaftlers durch prinzipielle Offenheit gekennzeichnet ist und theoretisches Vorwissen ausgeklammert wird. Bezogen auf den Erkenntnisgewinn ist das PZI sowohl im Erhebungs- als auch im Auswertungsprozess als induktiv-deduktives Wechselverhältnis zu verstehen, weshalb es auch in dieser Arbeit seine Anwendung fand: Das theoretische Vorwissen diente in der Erhebungsphase als Rahmen für die Interviewleitfragen. Zudem wurden Thesen generiert, an denen sich die Analyse und Interpretation der Interviews orientierte. Gleichzeitig wurde das Offenheitsprinzip realisiert, indem spezifische Relevanzsetzungen der Befragten insbesondere durch Narrationen angeregt wurden. Mit dieser Vorgehensweise sollte gewährleistet sein, dass die Problemsicht des Interviewers nicht die des Befragten überdeckt.

Witzel (1985, 1996, 2000) skizziert drei Grundpositionen des PZI: Problemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung. Die Problemzentrierung kennzeichnet die Orientierung an einer gesellschaftlich relevanten Problemstellung. Der Interviewer versucht die subjektive Sichtweise am Material zu interpretieren und spitzt die Kommunikation immer präziser auf das Forschungsproblem zu. Die gesellschaftliche Problemstellung war in dieser Arbeit dadurch gegeben, dass sich die Fragestellungen u. a. auf Ambivalenzen und Entscheidungskonflikte von Personen bezogen, welche die Methoden der Fortpflanzungstechnologien sowie der vorgeburtlichen Diagnostik nutzten. Die Handlungsbegründungen und Sinndeutungen der Betroffenen waren von zentraler Bedeutung, da diese zeigten, wie sie mit den gesellschaftlichen Anforderungen umgingen. Die Gegenstandsorientierung verweist auf die Flexibilität der Methode: Die Gesprächstaktiken sind flexibel. So folgte die Kommunikationsstrategie der unterschiedlich ausgeprägten Reflexivität und Eloquenz der Befragten, die entsprechend entweder stärker auf Narrationen oder auf Nachfragen im Dialogverfahren setzte. Die Prozessorientierung bezieht sich auf den gesamten Forschungsprozess. Bei den Befragten bestehen dann Vertrauen und Offenheit, wenn sie sich in ihrer Problemsicht ernst genommen fühlen. Dies fördert die Erinnerungsfähigkeit und motiviert zur Selbstreflexion. Die InterviewpartnerInnen entfalteten ihre Problemsicht in Kooperation mit dem Interviewenden. Dabei offenbarten sie während des Gesprächs neue Aspekte zum gleichen Thema, Korrekturen zu vorangegangenen Aussagen, Wiederholungen und auch Widersprüchlichkeiten. Ambivalenzen drücken Unentschiedenheiten aus und sollten thematisiert werden. Um das Vertrauen der Befragten nicht zu strapazieren, wurde in dieser Arbeit weitestgehend darauf verzichtet, es sei denn, es handelte sich um offensichtliche Missverständnisse des Interviewenden.

Das PZI war für die Fragestellung in dieser Arbeit eine geeignete Erhebungsmethode, da es den Vorteil bietet, dass gesellschaftliche Anforderungen anhand der subjektiven Problemsicht dargestellt werden können. Zudem bot das PZI durch die offene Herangehensweise sowie die Konzentration auf einen Themenbereich eine gute Erhebungsmethode für die Fragestellung nach dem subjektiven Erleben der Personen in reproduktionsmedizinischer Behandlung. Während häufig angenommen wird, dass bei qualitativer Forschung auf den theoretischen Bezugsrahmen und Forschungsstand verzichtet werden kann, werden durch das PZI Erkenntnisse in einem Wechselverhältnis von Induktion und Deduktion gewonnen. Theoretische Annahmen und Kenntnisse aus vorherigen Studien, die den Themenbereich tangieren, waren hierbei für die Konstruktion des Leitfadens und die anschließende Interpretation unabdingbar.

Das PZI wird durch Instrumente wie den Interviewleitfaden, den Kurzfragebogen, Tonbandaufzeichnungen der Befragung sowie das Postscriptum unterstützt. Mit dem Kurzfragebogen wurden demografische Daten erhoben wie Alter, Staatsangehörigkeit, Familienstand, Wohnsituation, Schul- und Bildungsabschluss, berufliche Tätigkeit und Beschäftigungsstand. Zudem wurden Daten zur reproduktionsmedizinischen Behandlung erfasst, wie Anfang und Ende der Behandlung oder Behandlungspausen, Anzahl der Behandlungszyklen, die Art der reproduktionsmedizinischen Behandlung, Erfolg hinsichtlich des Eintretens einer Schwangerschaft und Geburt sowie gegebenenfalls Anzahl, Geschlecht und Alter der Kinder. Diese Angaben dienten dem Interviewenden als Orientierung bezüglich der Interviewleitfragen, weshalb die Standarddemografie am Anfang des Gesprächs erfragt wurde. Darüber hinaus sollte der Gesprächseinstieg in die Interviews dadurch erleichtert werden, dass diese leicht zu beantworteten Fragen gestellt wurden. Somit konnten die Gespräche für die hauptsächlichen Fragestellungen und Themen genutzt werden.

Die Interviews wurden mit einem MP3-Rekorder (Modell: Edirol R-09) aufgezeichnet, wodurch eine bessere Gesprächskontrolle möglich war und die Kommunikation authentisch und präzise erfasst werden konnten. Der Interviewende informierte die Befragten vor dem Gespräch davon, dass die Aufzeichnungen zu Auswertungszwecken nötig seien, sicherte Anonymität zu und holte das Einverständnis der InterviewpartnerInnen ein. Durch die Aufzeichnung wurde gewährleistet, dass sich der Interviewende auf das Gespräch, die situativen Bedingungen sowie nonverbale Äußerungen konzentrieren konnte.

Die Tonbandaufzeichnungen wurden im Anschluss an das Gespräch vollständig transkribiert. Dabei wurde auf einen umfassenden linguistischen und paralinguistischen Zeichenkatalog verzichtet, bis auf einige Angaben über z. B. Gesprächspausen, da sich die Auswertung und Analyse der Transkripte nur auf inhaltliche Aspekte bezog. Die Orthografie wurde vom Dialekt bereinigt. Interpunktion und Abkürzungen wurden in konventioneller Form dargestellt. Zahlen wurden ausgeschrieben, Jahreszahlen in Ziffern wiedergegeben und Firmen-, Personen-, Orts- und Straßennamen anonymisiert. Ergänzend zu den Tonbandaufzeichnungen wurde ein Dokumentationsbogen bzw. Postscriptum angefertigt. Unmittelbar nach dem Gespräch wurden Anmerkungen zum Interview, situative und nonverbale Aspekte, Informationen der Befragten, die außerhalb des Interviews geäußert wurden, und gegebenenfalls thematische Auffälligkeiten notiert. Diese waren teilweise bei der Auswertung hilfreich. Der Leitfaden diente als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen für den Interviewenden. Damit konnte kontrolliert werden, inwieweit einzelne Themenbereiche im Gespräch behandelt wurden. Durch den Leitfaden konnte zudem die Vergleichbarkeit der Interviews gewährleistet werden. Er beinhaltet Kategorien, die der Codierung von Textstellen dienen sowie Frageideen, die in bestimmte Themenbereiche einleiteten.