Hallo,
zunächst mal: Ich finde die Diskussion faszinierend, weil ich ja selbst in einem sehr multikulturellen Land arbeite, und mir wieder einmal bewusst wird, wie kompliziert es ist, zu entscheiden, was akzetabel ist, oder nicht.
In dem Link werden einfach wahllos Informationen zusammen gestückelt, ohne dass sie dadurch die Aussage, es sei in vielen Teil der Welt normal, belegen.
Zum einen gibt es weder Mesopotamien nicht das alte Ägypten noch, noch weiß die Archäologie, ob es damals wirklich üblich war, Kinder so lange zu stillen. Die Wissenschaft weiß nur, dass es damals einige (wenige) Herrscher gab, bei denen die Quellenlage Hinweise darauf liefert, dass sie über einen längeren Zeitraum gestillt worden sind. Bei den meisten anderen Herrschern hingegen gibt es gar keine Hinweise. Man kann also keinerlei Schlüsse darauf ziehen, dass das damals üblich war, oder nicht. Und man kann daraus schon gar keine Schlüsse darauf ziehen, dass es heute in vielen Teilen der Welt normal sein könnte, denn diese beiden Reiche gibt es schon seit Langem nicht mehr.
Die Bibel trifft keine klaren Aussagen über die Dauer der Stillzeit. Ganz im Gegenteil: Im Judentum zum Beispiel ist diese Frage massiv umstritten. Der Talmud, eine Sammlung von Auslegungen der Thorah, erwähnt in K'tubboth, jenem Teil, der die Ehe regelt, eine maximale Stilldauer von zwei Jahren, die unter bestimmten Umständen, zum Beispiel bei kranken Kindern, als akzeptabel gesehen wird. Einige Rabbiner betrachteten sogar eine Stillzeit von bis zu fünf Jahren als akzeptabel, während die meisten anderen Rabbiner schon zwei Jahre als normal zu viel betrachteten und nach wie vor betrachten.
Im Koran hingegen wird eine Stillzeit von zwei Jahren vorgeschrieben, wobei man dies im sozio-ökonomischen Kontext der Zeit, in der der Koran verfasst wurde, sehen muss, und auch von islamischen Religionsgelehrten so gesehen wird: Damals hatte diese Vorschrift praktische Gründe.
Inuit und Grönländer sind weitestgehend das gleiche: Grönländer sind Inuit. Es wurde in der Tat Anfang des 20. Jahrhunderts davon berichtet, dass Inuit in Nordamerika ihre Kinder sieben Jahre lang stillen, aber diese Praxis ist bereits seit vielen Jahrzehnten nicht mehr beobachtet worden - auch und vor allem deshalb, weil durch die erhöhte Schadstoffbelastung der Muttermilch die Kinder reihenweise gestorben sind.
Langzeitstillen war stets eine Antwort auf sozio-ökonomische Einflüsse, niemals allerdings kulturell oder religiös bedingt. Änderte sich die sozio-ökonomische Lage, änderte sich damit auch die Praxis des Langzeitstillens. In vielen Kulturen, wie zum Beispiel bei den Inuit, die in solchen Diskussionen immer etwas romantisch verklärt, ins Feld geführt werden, bildete sich bereits vor der zunehmenden Schadstoffbelastung der Muttermilch, die mit dem Eindringen westlicher Kolonisierer in ihren Lebensbereich einher ging, ein Bewusstsein für die Schädlichkeit dieser Praxis für die kindliche Entwicklung heraus, wobei diese Schädlichkeit ihre Ursache ebenfalls in der mit dem Kontakt mit westlichen Kulturen einher gehenden Bewusstseinsänderung dieser Menschen einher ging.
Denn die weibliche Brust wurde und wird nicht von allen Kulturen gleichermaßen als Sexualmerkmal gesehen. Damit das Langzeitstillen allerdings schädlich für das Kind wirkt, muss es seinen Status als Nahrungsquelle verlieren, und das entsteht nun einmal aus einer Konditionierung auf die weibliche Brust als Sexualmerkmal.
Will heißen: Man kann nicht grundsätzlich von Missbrauch sprechen, und von sexuellem Missbrauch schon gar nicht (soweit ich weiß, wurde das Urteil mittlerweile auch einkassiert). Man kann aber auch nicht sagen: Dort ist es in Ordnung, deshalb muss es das hier auch sein. Wir sind alle Kinder unserer Zeit, und richtig und falsch verschwimmen.
Ich persönlich würde für sowas kein Gericht bemühen, sondern eher das Gespräch mit den Betroffenen suchen.
Viele Grüße,
Ariel