Hallo,
Ich muss leider gestehen, dass ich ebenfalls nicht wirklich verstanden habe, was für eine Entzugseinrichtung Du hier beschreibst. Ich reime mir mal zusammen (bitte laut kreischen, falls ich daneben liege), dass es sich dabei um eine Art "Sucht-Notaufnahme" handelt, die sich um die ersten Entzugserscheinungen kümmert (die bei vielen Drogen, aber auch Alkohol in den ersten paar Tagen wirklich schlimm sind) und die Patienten dann an andere ambulante oder stationäre Therapieeinrichtungen weiter vermittelt - jedenfalls hoffe ich das, denn die Sucht ist nach dem Abklingen der ersten Entzugserscheinungen keinesfalls überstanden.
Ich kann mir momentan überhaupt nicht vorstellen, wie man in solchen ersten Tagen überhaupt ein therapeutisches Konzept, dass über die reine Linderung der Entzugserscheinungen hinaus geht, einleiten könnte, denn in diesen Tagen liegen die Nerven blank, haben die Patienten schwerste körperliche und seelische Schmerzen, sind sie oft auch depressiv, In einer solchen Situation damit zu beginnen, von ihren Beziehungen zu ihrem Umfeld zu sprechen, ist im besten Fall Experimentieren am Menschen und im schlimmsten Fall wie Russisches Roulette mit zehn Patronen in der Kammer - nicht nur ist der Patient in diesen ersten Tagen in einer schwersten seelischen Notlage. Er ist auch durch die Überweisung an andere Einrichtungen nach vier Tagen der Umsetzung eines nachhaltigen, kontinuierlichen Therapiekonzepts, und auch der Schaffung eines Vertrauensverhältnisses durch einen Therapeuten zu diesem Therapeuten weitgehend entzogen. Das Zusammenspiel dieser Faktoren macht den Beginn einer nachhaltigen Therapie zu einem solch frühen Zeitpunkt in einem solchen institutionellen Umfeld zu einem großen Risiko, und es macht den Versuch einer Aufstellung, ganz gleich ob nach Hellinger und nach Satir zu einem Menschenversuch, der meiner Ansicht nach ethisch nicht vertretbar ist.
Denn Suchtpatienten sind nie ohne Grund süchtig: Es gibt immer Faktoren, die dazu geführt haben, dass man sich einem Suchtmittel ergeben hat, und eine der ehesten Aufgaben der Therapie muss es sein, diese Gründe aufzuarbeiten, um den Patienten zu stärken, und aufzubauen, und es ihm damit zu ermöglichen, ein eigenverantwortliches Leben ohne Flucht in die Sucht zu ermöglichen. Eine solche Aufarbeitung muss aber immer in ein Gesamtkonzept eingebettet sein, dass dem Patienten beibringt, sich mit den Gründen, die durch welche Methode auch immer zum Vorschein gekommen sind, auseinander zu setzen. Man kann schon grundsätzlich nicht darauf vertrauen, selbst wenn der Patient emotional völlig gefestigt scheint, und, was auch passiert, zum Beispiel eine Familienaufstellung einfach mal ausprobiert, dass dieser Patient sich aus eigenem Antrieb und ohne Therapeut mit den Dingen, die durch so etwas zum Vorschein kommen, auseinander setzen und sie verarbeiten kann. Bei Suchtpatienten wäre dieses Vertrauen im ethischen Sinne sträflich.
Allerdings: Skulpturen nach Satir sind in vielen guten US-amerikanischen Therapieeinrichtungen Teil des Konzepts, und sie haben durch Filme wie "Analyze This" (deutsch: "Reine Nervensache") und Serien wie "Brothers and Sisters" (zweite Staffel; bei Euch nicht gezeigt) und "In Treatment" (bei Euch gerade angelaufen) eine breite Aufmerksamkeit im außer-amerikanischen Ausland bekommen. Parallel dazu bewerben die Gefolgsleute Hellingers, deren Hingabe an ihren Meister Bert Hellinger auch meiner Erfahrung nach direkt sektenähnliche Züge hat, die eine kiritsche Diskussion der Methoden nahezu unöglich machen, die Heilslehre ihres Gurus, die einfach sei, und hilfreich, und deshalb einfach nur gut. Über die Probleme, die entstehen können, sagen die gerne mal, brauche man nicht zu sprechen, denn anderen habe es ja geholfen, und man solle es doch einfach mal ausprobieren.
Fernsehen, Film und, für fortgeschrittene Emos, die Bücher, in denen der oben verlinkte Thomas Schäfer, ein Magister in Politologie und Soziologie, der sich nach ein paar Kursen zum Psychotherapeuten erklärt hat, und seitdem am schwierigsten Teil des menschlichen Körpers, der Seele, rumdoktert, und Heilsversprechen für so gut wie alle Probleme des Alltags von Pubertät bis hin zu Eheproblemen abliefert, suggerieren uns, dass die Seele ganz einfach zu reparieren ist: Wir stellen uns einfach mal hin, schauen wo wir stehen, maunzen uns dabei ein bisschen an, bevor dann einer sagt, dass wir uns jetzt alle ganz toll lieb haben, und alles ist in Ordnung.
Es ist eben diese Ordnung, die Hellinger von Satir unterscheidet, die dennoch beide gerne in einen Topf geworfen werden. Satirs Methode ist in der Regel in ein Gesamtkonzept eingebettet, dass die Zusammenhänge in einer Gruppe und die Probleme und Abhängigkeiten der Individuen untereinander und miteinander analysiert, um sie dann aufzuarbeiten. Das erfordert Zeit, und ist damit ehrlich. Probleme, die über Jahre entstanden sind, kann man nicht in Minuten lösen. Satir propagiert eine Änderung der Ordnung, um die Lösung der Probleme der Individuen anzugehen. Was diese Methode an und für sich zu einem Problem macht, wenn man nicht mit allen Gruppenmitgliedern therapeutisch arbeitet.
Denn die Ordnung innerhalb einer Gruppe kann, und sie tut es sehr oft, auf Abhängigkeiten beruhen, die sich aus bestimmten Rollenmusters ableiten. Das bedeutet zum Beispiel, dass es Person gibt, die für sich selbst die Führungsrolle beansprucht. Die Stärkung einer weiteren Person kann deshalb von der Führungsperson als Untergrabung ihrer Authorität gesehen werden, und zu einem Problem in dieser Führungsperson führen, und das vor allem dann, wenn, wie das oft der Fall ist, die Authorität in dieser Gruppe die Quelle des Selbstwertgefühls ist. Wie gesagt: Man muss mit allen Beteiligten arbeiten, und Satir ist eine Pionierin der Familientherapie, die bis heute ihresgleichen sucht. Wir setzen ihre Methoden bei uns zum Beispiel in der Arbeit mit jugendlichen Strafgefangenen und deren Familien ein, und lieben bisher die Ergebnisse: Die Rückfallquoten bei den beteiligten Jugendlichen liegen bei momentan 14 Prozent.
Allerdings muss ich dazu sagen, dass Skulpturen nur ein kleiner Teil des Gesamtkonzeptes sind, dass zudem über einen sehr langen Zeitraum geht.
Aber zurück zum Thema. Und damit zu Hellinger. Auf den ersten Blick wirken beide Methoden sehr ähnlich, aber sie sind es nicht. Während Satir Ordnungen hinterfragt, und eine mindestens mittelfristige Arbeit mit allen Beteiligten fordert, hinterfragt Hellingers Methode solche Ordnungen nicht nur nicht, sondern sie stellt sie als "gegeben" vor: Die Individuen haben sich in sie einzufügen. Das aber begünstigt in sich denjenigen, der die Rolle der Führungsperson inne hat, und sorgt dafür, dass die Probleme, die ein Einzelner mit anderen Gruppenmitgliedern hat, nicht adäquat angegangen werden können, selbst wenn es eine Nachbearbeitung gibt, so lange die von einem Therapeuten vorgenommen wird, der nach der Methode Hellingers arbeitet, denn dieser Therapeut wird auf die Bewahrung und / oder Wiederherstellung der Ordnung hinarbeiten. Ganz besonders eklig ist das, wenn es um Missbrauchsfälle geht, in denen die Authoritätsperson der Täter ist.
Denn auch das nimmt Hellinger für sich in Anspruch: Täter-Opfer-Arbeit leisten zu wollen, und dass auch in Bereichen, an denen Menschen gescheitert sind, die sich damit Jahrzehnte lang damit befassen: wie zum Beispiel den Tätern und Opfern des Holocausts. Irgendwann schlug Hellinger auch mal hier in Israel auf, um "Täter und Opfer dazu zu bringen, miteinander zu weinen". Ich bin ein großer Freund von Täter-Opfer-Arbeit, aber nicht auf diese Weise: Was in sich nach einem hehren Streben klingt, ist nichts weiter als ein fauler Zauber, weil es nicht an der Ordnung in der Beziehung rüttelt, die durch die Tat zwischen Täter und Opfer entstanden ist. Der Täter bleibt weiterhin die Authoritätsperson, die von der durch die Tat(en) erlangen Schuld dadurch entbunden wird, dass ihm das Opfer vergibt, was dem Opfer widerum als Erlösung von der durch die Tat(en) entstandenen Abhängigkeit verkauft wird. Der Täter bekommt seine Erlösung also nahezu zum Nulltarif; vom Opfer hingegen wird die Hintanstellung des Allerwichtigsten gefordert: der eigenen Emotionen.
Ganz gleich ob Missbrauch, Jugendgewalt oder der Holocaust: Nach Hellinger wird Ausgleich zwischen Tätern und Opfern zu einem Weg, um die "Ordnung" durch ein schlichtes "Ich vergebe Dir" wiederherzustellen. Das klingt nach Religion, und ist es auch: Die Familienaufstellung nach Hellinger hat so gut wie keinen wissenschaftlich-theoretischen, aber dafür einen kräftigen religiös-mystischen Unterbau, mit dem Hellinger suggeriert, einfache Lösungen für schwierige Probleme bieten zu können.
Und es ist nun einmal in der menschlichen Natur, es möglichst einfach haben zu wollen, und das noch viel mehr so, wenn man selbst durch eine Schuld an der Fortsetzung des Lebens gehindert wird, wie man es kennt. Oder auch, wenn ein Angehöriger aus der Ordnung ausbricht, und sie damit ins Wanken bringt. Hellingers Methode zielt darauf ab, den Betreffenden "passend" zu machen, damit der sich wieder in die Ordnung einfügen kann, denn die ist ja gegeben, und damit unangreifbar. Hellingers Methode nimmt daher in Kauf, dass die Emotionen und Gefühle des Leidenden zwar zum Vorschein gebracht, aber nicht adäquat, wenn überhaupt, bearbeitet werden, denn die Unumstößlichkeit der Ordnung lässt dies oft nicht zu. Was dies lebensgefährlich machen kann, ist die damit einher gehende Verwendung von religiösen und mystischen Begrifflichkeiten und einem Metasprech, der vom Leidenden missverstanden werden kann. Ein "Ich wünschte Du wärest tot" kann in einer seelischen Notlage zu einer Aufforderung zum Selbstmord umgedeutet werden, und wird es auch. Zwar sind solche Fälle selten. Aber es gibt sie. Und damit müssen sie das Maß der Dinge sein.
Die der Mensch, der eine Familienaufstellung nach Hellinger durchführt, oft nicht auffangen kann, weil Hellinger suggeriert, dass im Prinzip jeder eine solche Aufstellung leiten kann, der sich eine Zeit lang damit befasst hat. Denn für Hellinger ist nicht nur die Therapie (die er selbst, vermutlich aus Sorge vor rechtlichen Konsequenzen, nicht mehr als Psychotherapie, sondern als "Lebenshilfe" bezeichnet) kurz, der Weg zur Therapeutenrolle ist es auch.
Und das bedeutet, dass da draußen Menschen eine als "Lebensberatung" oder gar als "Therapie" getarnte, und meist finanziell sehr intensive Methode praktizieren, die man nur als Dilettanten bezeichnen kann, denn nicht nur hat diese Praxis oft keinen therapeutischen Nutzen, aber dafür einigen Schaden. Sie begünstigt auch durch die Verwendung von Menschen, die weder eine anständige Ausbildung noch die nötige Distanz haben, und die zudem oft selbst Patienten von Hellinger-Jüngern waren, dass diese Menschen die Teilnehmer an einer Familienaufstellung nach Hellinger durch implizite Suggestion manipulieren. Der Aufsteller kann nur unvoreingenommen moderieren, wenn er oder sie eine Distanz zu den Problemen der Beteiligten hat, und seine eigenen Emotionen und Erfahrungen hintan stellt. Hellingers System begünstigt das Projezieren von Narrativen des Aufstellers auf die Teilnehmer und damit unter Umständen das Suggerieren und Manipulieren von Emotionen der Teilnehmer bis diese möglicherweise Probleme annehmen, die vom Aufsteller auf die teilnehmende Gruppe projeziert werden.
Viele Grüße,
Ariel