Hallo,
vielen Dank. Auf Grund der Sachlage, die Du hier dargelegt hast, denke ich, dass es hier gleich zwei große Probleme gibt.
1.: Wenn die Lage tatsächlich so ist, wie Du es beschreibst, und die Jugendliche nur alle 14 Tage außerhalb des Schulbesuchs Haus oder Wohnung verlassen darf, dann wäre das ganz deutlich eine Verletzung der elterlichen Sorgepflicht. Mindestens. Denn zudem stellt sich auch die Frage nach den Mitteln, mit denen die Tochter dazu gebracht wird, diese Regeln zu befolgen: Dass sie die Situation nicht klaglos hinnimmt, geht aus Deinen Zeilen recht deutlich hervor. Und die Frage, was die Eltern tun, um ihre Tochter zu zwingen, ist damit eine nahezu selbstverständliche Schlussfolgerung aus der von Dir beschriebenen Situation: Es drängt sich der Verdacht auf, dass körperliche und / oder seelische Gewalt angewandt oder wenigstens angedroht wird.
2.: Es stellt sich die Frage, wie man dieses Problem angehen sollte, und dies stellt in sich ein großes Problem dar. Wenn man davon ausgeht, dass das Mädchen diese Einschränkungen nicht freiwillig akzeptiert, und die beiden Erwachsenen weder gesprächsbereit sind, noch Einsicht zeigen, dann ist diese Situation ein klarer Fall für das Jugendamt. Doch jeder der das Jugendamt einschaltet, muss sich bewusst sein, dass dies bei der Mutter und ihrem Partner zu einer ablehnenden Reaktion gegenüber demjeningen führen würde, der sich an die Behörden gewandt hat - bis hin zum Abbruch des Kontakts.
Wenn man dazu hinzunimmt, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes grundsätzlich nur eine Momentaufnahme der Situation in einer Familie bekommen, und vor allem die erwachsenen Beteiligten in der Regel alles daran setzen, dass Problem klein- oder wegzureden, kann dies das ursprüngliche Problem noch verschlimmern, falls das Jugendamt der Darstellung der Erwachsenen folgt, und diese den Kontakt zu zum Beispiel Dir abbrechen. Damit musst Du auch rechnen, wenn Du Schritte einleitest, und diese erfolgreich sind: Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Eltern der Ansicht sind, alles richtig zu machen; oft brüsten sie sich sogar gegenüber anderen damit, dass ihr jugendliches Kind "anders" ist als andere Jugendliche, und nicht die Sachen macht, auf die Erwachsene oft mit Ablehnung reagieren.
Deshalb ist bei der Planung der Vorgehensweise zunächst einmal für Dich die Frage zu klären: Bist Du dazu bereit, den Kontakt zu Deinem Bruder möglicherweise dauerhaft zu verlieren? Denn ich fürchte, dass es anders nicht gehen wird: Es ist in der Regel unmöglich, solche Eltern durch "Zureden" zum Umdenken zu bewegen - die Hilfe einer Beratungsstelle wird also nicht reichen. Angebote der Familienilfe könnten von den Erwachsenen zurück gewiesen, aber der Kontakt zu Dir dennoch eingestellt werden.
Und: Du musst Dir bewusst sein, dass es nicht um Dich, oder das, was Du über diese Leute denkst geht, sondern einzig und allein darum, dass die Rechte des Mädchens durchgesetzt werden.
Insgesamt ist also große Vorsicht bei der Planung der Vorgehensweise angebracht: Nicht alles was sinnvoll erscheint, ist auch sinnvoll. Man möchte die Situation nicht verschärfen.
Wie gesagt: Zunächst einmal musst Du Dir bewusst werden, ob Du dazu bereit bist, den möglichen Abbruch des Kontakts zu Deinem Bruder zu akzeptieren. Wenn Du dazu bereit bist, ist meiner Ansicht nach der nächste Schritt, Kontakt zu dem Mädchen aufzunehmen, um heraus zu finden, wie groß sein Leidensdruck ist, wie stark der Wunsch ist, etwas gegen die Situation zu unternehmen, oder gar von zu Hause auszuziehen.
Wenn Du dabei feststellst, dass der Druck sehr groß ist, und der Wille auch, dann wäre der nächste Schritt, gemeinsam mit dem Mädchen das Jugendamt aufzusuchen, und den dortigen Mitarbeitern die Situation darzulegen. Idealerweise sollte dies ohne Wissen der Eltern geschehen - die Gefahr, dass sie versuchen könnten, über die Androhung körperlicher oder seelischer Gewalt das Mädchen dazu zu bringen, von seinem Vorhaben abzulassen, ist zu groß. Dies verhindert auch neuen, noch größeren Schaden für den Fall, dass das Jugendamt zunächst nicht aktiv werden will - das Mädchen kann an diesem Punkt noch zurück, als wäre nichts gewesen, während im Hintergrund die rechtlichen Schritte eingeleitet werden.
Im Gespräch mit dem Jugendamt würde ich dann an Deiner Stelle erklären, dass Du das Mädchen, ab diesem Tag, bei Dir aufnehmen möchtest, bis das Jugendamt sich ein Bild von der Situation gemacht und versucht hat, eine Verbesserung der Situation herbei zu führen. Falls das Jugendamt nicht zustimmt, sollte der nächste Schritt DIREKT, noch am selben Tag (am Besten vorsichtshalber vorab einen termin geben lassen) zum Anwalt führen, damit der einen Antrag auf einstweilige Verfügung beim Familiengericht stellen kann. ABER: Ich rede hier von dem Fall, dass das Kind stark unter der Situation leidet, und dringend ausziehen will - was Du selber darüber denkst, was das Mädchen wollen sollte, spielt absolut keine Rolle. Bitte halte Dir das ganz klar und deutlich vor Augen. Im absoluten Idealfall würdest Du Dich bereits, nachdem Du genau heraus gefunden hast, was das Mädchen will, und vor dem Gang zum Jugendamt von einem Anwalt beraten lassen.
Leider besteht die Möglichkeit, dass es Dir und dem Mädchen in absehbarer Zeit nicht gelingen wird, eine Möglichkeit zu finden, gemeinsam ohne Wissen Deines Bruders und Deiner Schwägerin das Jugendamt und möglicherweise einen Anwalt aufzusuchen.
In diesem Fall würde leider nur die Flucht nach vorne bleiben, also der Gang zum Jugendamt mit Wissen Deiner Schwägerin. In diesem Fall ist aber eine Beratung und Begleitung durch einen Anwalt ratsam - es gibt zu vieles, was dabei schief gehen kann. Bei der Flucht nach vorne würde das Mädchen, auch trotz des Verbots der Mutter oder Deines Bruders, die Wohnung verlassen, um sich gemeinsam mit Dir zum Jugendamt zu begeben. Deine Schwägerin und Dein Bruder dürfen sie nicht daran hindern, ihre Rechte gegen sie durchzusetzen. In diesem Moment würde die eigene Mutter zur Rechtsgegnerin.
Sollte das Mädchen dabei einen Rückzieher machen, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Kontakt zu Dir abgebrochen wird. In diesem Fall müsstest Du das Jugendamt alleine über die Situation aus Deiner Sicht informieren, und darum btten, ein Auge auf diese Familie zu werfen - es ist ein schwacher Schritt, mit wenig Aussicht auf Verbesserung der Lage, aber es wäre in diesem Fall alles was Du noch tun könntest.
Sollte versucht werden, das Mädchen durch körperliche Gewalt oder verbale Drohungen am Verlassen der Wohnung zu hindern, ist umgehend die Polizei hinzu zu rufen. Du darfst nicht gegen den Willen Deiner Schwägerin oder Deines Bruders die Wohnung betreten, es sei denn, es besteht die Notwendigkeit, die Jugendliche vor Gewalt zu schützen. Selbst wenn Du beschimpft werden solltest, ist es unerlässlich, dass Du ruhig bleibst und Dich nicht auf einen Streit einlässt -es geht nur darum, dass dem Mädchen geholfen wird, und um sonst nichts. Sei Dir bitte bewusst, dass es, wenn Ihr diese Option wählt, kaum noch ein Zurück mehr gibt.
Ich komme jetzt abschließend noch auf die allgemeinen rechtlichen Hintergründe in Deutschland zu sprechen. Dies ist keine Rechtsberatung und kann Fehler enthalten.
Es ist eine weit verbreitete Ansicht, dass Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht Eltern eine nahezu allumfassende Macht und Kontrolle über ihre minderjährigen Kindern geben. Diese Annahme ist jedoch falsch: Eine ganze Reihe von Gesetzen setzt der elterlichen Allmacht Grenzen und legt Pflichten fest: Am Bekanntesten ist wohl der Paragraph 1631 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, in dem unter anderem festgelegt wird, dass Kinder ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben. Weniger bekannt ist der Folgesatz: "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig."
Interessant dabei ist, was die Rechtssprechung als "entwürdigende Maßnahmen" definiert hat: Der klassische "Hausarrest" gehört dazu, wenn er über einen längeren Zeitraum geht. Man darf einem Kind oder einem Jugendlichen auch nicht den Umgang mit Gleichaltrigen versagen, denn Paragraph 1 des Achten Sozialgesetzbuches erklärt deutlich, dass jeder "junge Mensch" das Recht auf die Erziehung zu einer "eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit" hat.
Dem widerspricht, auf Dauer die sozialen Kontakte eines Jugendlichen zu unterbinden. Auch dürfen Kinder und Jugendliche nicht über das übliche Maß der Mithilfe im Haushalt dazu verpflichtet oder gezwungen werden, dauerhaft Haushalt oder Kinderbetreung zu übernehmen. Außerdem hat ein Jugendlicher ab einem bestimmten Alter das Recht, in Entscheidungen die ihn betreffen, angehört und miteinbezogen zu werden: Dazu zählt unter anderem die medizinische Behandlung, aber auch, wenn es um die persönliche Freiheit geht: So dürfen Eltern nicht einfach entscheiden, ihr Kind gegen seinen Willen in einem Heim oder der Psychiatrie unterzubringen. Hierfür hat der Gesetzgeber einen mehr oder weniger gut durchdachten Mechanismus eingeführt, der die Rechte von Kindern und Jugendlichen in diesen Fragen wahren soll.
Es ist auch durchaus möglich, dass ein Jugendlicher in diesem Alter ohne Zustimmung der Eltern von zu Hause auszieht - nämlich dann, wenn das Wohl dieses Jugendlichen im Hause der Eltern nicht gewährleistet ist. In diesem Falle muss man sich die Zustimmung des Jugendamtes einholen, das auf der Grundlage der beschriebenen Gesetze und nach Anhörung des betroffenen Jugendlichen seine Entscheidung trifft, gegen die es wiederum Klage- und Einspruchsmöglichkeiten gibt.
Viele Grüße,
Ariel