Artikel über ADHS mit M.Döpfner

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Beunruhigender Trend zur vorschnellen Diagnose und leichtfertigen Verordnung von Medikamenten
ADHS oder einfach nur besonders lebhaft?
von Andrea Hertlein

„Bei ADHS handelt es sich vermutlich um eine multifaktorielle Erkrankung“, sagt Prof. Manfred Döpfner aus Köln. Dabei spielt die genetische Prädisposition eine zentrale Rolle.

Das Gehirn leidet unter einer ständigen Reizüberflutung. Foto: Archiv / Rose
So haben Kinder, deren Eltern ebenfalls Hyperkinetiker sind, ein etwa 70 Prozent erhöhtes Risiko, an ADHS zu erkranken. Aber auch exogene Faktoren wie Nikotin- oder Alkoholmissbrauch zählen zu charakteristischen Risikofaktoren.

Weil das Gehirn die eingehenden Reize nicht optimal einordnen kann, erleben Hyperkinetiker eine ständige Reizüberflutung. Die Folge sind eine verminderte Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Kinder mit ADHS fallen durch ihre Ruhelosigkeit, ihr ständiges Zappeln und Umherlaufen auf.

Leitlinien mit eindeutigen Vorgaben

Hyperkinetiker sind leicht ablenkbar und haben Schwierigkeiten, begonnene Tätigkeiten zu Ende zu führen. Hinzu kommt eine geringe Frustrationstoleranz: Sie vermögen nicht, ihre Bedürfnisse aufzuschieben und reagieren schnell gereizt und wütend. Allerdings ist nicht jedes lebhafte Kind gleich hyperkinetisch und muss therapiert werden. Mit Sorge beobachten Kinderpsychiater und Psychotherapeuten den Trend zur vorschnellen Diagnose und leichtfertigen Verordnung von Medikamenten. Abhilfe schaffen sollen hier die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Sie geben klare Handlungsanweisungen, die zu einer angemessenen Diagnose und problemorientierten Therapie führen. „Mit ICD 10 und DSM IV stehen dem behandelnden Arzt handfeste Diagnosekriterien zur Verfügung“, erklärt Döpfner. Die Verhaltensstörung lasse sich damit heute eindeutig diagnostizieren. „Doch dies ist aufwändig und benötigt Zeit.“

Die Therapie von ADHS basiert auf einem multimodalen Konzept, das je nach individueller Symptomatik des Kindes aus verschiedenen Bausteinen bestehen sollte. „Jede Maßnahme muss gezielt dort ansetzen, wo die Probleme dominieren“, erklärt Döpfner. Zu den einzelnen Elementen der Behandlung zählen nach den Empfehlungen der Leitlinien Psychoedukation und Beratung, medikamentöse Therapie, verhaltenstherapeutische Interventionen in Familie, Schule bzw. Kindergarten und kindzentrierte Verfahren.

Am Anfang steht immer die Aufklärung der Eltern

„Die Basis jeder therapeutischen Intervention ist immer die detaillierte Aufklärung von Eltern, Lehrern oder Erziehern. Erst dann sollte bei stark ausgeprägter Symptomatik medikamentös behandelt werden“, so Döpfner. Vor allem dann, wenn die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern massiv belastet ist oder Schulprobleme den Entwicklungsweg des Kindes erheblich beeinflussen. Hierbei werden in aller Regel Stimulanzien wie das unter dem Namen Ritalin bekannt gewordene Methylphenidat eingesetzt - und das mit großem Erfolg.

Zahlreiche Studien, darunter auch die amerikanische Multimodal Treatment Study (MTA-Studie), belegen, dass durch die pharmakologische Therapie bei etwa 70 bis 90 Prozent der betroffenen Kinder Verhaltensauffälligkeiten verringert oder sogar ganz beseitigt werden konnten. Während Schlaflosigkeit und Appetitmangel häufig zu beobachten sind, bleiben schwerwiegende Nebenwirkungen bei sachgemäßer Anwendung aus.

Doch keineswegs sollte man ausschließlich auf Stimulation setzen. Denn nur wenn die medikamentöse Therapie in eine umfassende und individuelle Betreuung eingebettet ist, kann laut Experten langfristig ein Therapieerfolg gewährleistet werden. Als besonders wirksam hat sich eine Kombinationstherapie erwiesen, die den Schwerpunkt auf die Verhaltenstherapie legt. Diese kann dem Kind helfen, Selbstregulationsfähigkeiten und Problemlösekompetenzen zu verbessern und damit angemessenere Verhaltensmuster zu verstärken. Während bei Vorschulkindern vor allem das Spieltraining angewendet wird, um ihre Aufmerksamkeit zu erhöhen und die Spielintensität zu verbessern, soll ein Selbstinstruktionstraining das reflexive und planvolle Verhalten von Kindern im Schulalter intensivieren.

ADHS-Kinder sind sensibel und begeisterungsfähig

Um das Verhalten des Kindes positiv und konstruktiv zu verändern, sollte in möglichst allen Lebensbereichen ein für das Kind voraussehbares und verständliches Vorgehen der Bezugspersonen erfolgen. Deshalb benötigen auch Eltern Tipps und Beratung für den richtigen Umgang mit ihren Kindern. In speziellen Trainingsseminaren lernen sie, klare Handlungsanweisungen zu geben und Grenzen zu setzen. Denn üblicherweise provoziert besonders ein hyperkinetisches Kind durch sein ungestümes Verhalten und Nichtbeachtung von Regeln negative Reaktionen, wie etwa Ärger, Wutausbrüche oder Bestrafung.

Doch bei all den Schwierigkeiten und Problemen, mit denen Eltern hyperkinetischer Kinder fertig werden müssen, dürfen sie eines nicht vergessen: Gerade diese Kinder besitzen auch ausgesprochen positive Eigenschaften. Sie sind nicht nur neugierig und begeisterungsfähig, sondern auch sehr sensible und hilfsbereite Menschen, deren gute Eigenschaften es zu fördern und zu stärken gilt.


ÄP-NACHGEFRAGT

...bei Prof. Dr. Manfred Döpfner von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Köln

„Keine klare Linie zwischen gesund und krank“

ÄP:Die Verschreibung von Stimulanzien hat in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Wird ADHS überdiagnostiziert?
Döpfner: Nein, generell nicht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob die richtigen Kinder diagnostiziert werden. Die Gefahr bei ADHS besteht vor allem darin, dass Kinder, die unaufmerksam sind oder schulische Leistungsprobleme haben, oftmals vorschnell in die Schublade ADHS gesteckt werden. Viele Ärzte schauen nicht genau hin. Die Folge: ADHS wird nicht überdiagnostiziert, aber es können Fehler in der Diagnose gemacht werden.

Warum ist es so schwierig, eine eindeutige Diagnose zu stellen?
Die Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität müssen in verschiedenen Bereichen auftreten. Deshalb sollten nicht nur die Eltern, sondern auch Lehrer und Erzieher sehr intensiv befragt werden. Gleichzeitig ist es wichtig abzuklären, ob die vorhandenen Probleme nicht auch auf andere Ursachen zurückzuführen sind. So wird ADHS häufig bei Kindern diagnostiziert, die lernbehindert sind und deshalb Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme haben.

Wann treten erste Anzeichen der Verhaltensstörung auf?
Die Symptomatik zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Kindergartenalter beginnt und einen sehr systematischen, stabilen Verlauf hat. Wenn zum Beispiel ein zehnjähriges Kind plötzlich Symptome zeigt, ist es sehr fraglich, ob es sich tatsächlich um ADHS handelt. Viele Eltern berichten uns, dass die Probleme mit der Einschulung begonnen haben. Fragt man jedoch konkreter nach, stellt sich heraus, dass die Kinder auch schon im Kindergarten unter motorischer Unruhe und Konzentrationsstörungen litten.

Sollten alle Kinder, bei denen ADHS diagnostiziert wird, auch medikamentös behandelt werden?
ADHS ist nicht vergleichbar mit Masern oder Mumps, es gibt keine klare Trennungslinie, kein „gesund“ oder „krank“. Ähnlich wie bei Bluthochdruck oder Übergewicht sind Kinder mit ADHS entweder mehr oder weniger stark betroffen. Die Behandlungsleitlinien empfehlen eine pharmakologische Therapie, wenn die Symptomatik sehr massiv ausgeprägt ist, was jedoch nur für ein bis zwei Prozent der ADHS-Kinder zutrifft. Bei der Mehrzahl der Betroffenen steht zunächst die ausführliche Beratung der Eltern, Lehrer und Erzieher sowie eine Verhaltenstherapie im Vordergrund. Erst wenn die angewendeten Maßnahmen nicht ausreichen, sollte auch bei Kindern mit einer schwächeren ADHS-Symptomatik auf eine medikamentöse Behandlung zurückgegriffen werden.

Wie lange sollten die Kinder therapiert werden?
Es gibt durchaus Kinder, die beim Übergang ins Jugendalter auch ohne Medikamente zurechtkommen, während bei anderen Kindern die Medikation bis ins Erwachsenenalter indiziert ist. Nach den Empfehlungen der Leitlinien sollten deshalb einmal im Jahr Auslassversuche vorgenommen werden, um zu überprüfen, ob die Kinder bereits ohne Medikamente auskommen bzw. ob eine entsprechende Anpassung der Medikation durchführt werden muss.

Wo liegen Probleme in der Versorgung von Kindern mit ADHS?
Da ADHS eine relativ häufige Störung ist, haben wir große Probleme, eine angemessene Versorgung zu gewährleisten. Wir sind darauf angewiesen, dass ein Teil der Versorgung durch die Kinderärzte abgedeckt wird. Das Problem ist jedoch, dass ADHS - was die Diagnostik und langfristige Betreuung betrifft - eine sehr zeitaufwändige Angelegenheit ist. Hinzu kommt, dass es sich bei ADHS um ein psychiatrisches Störungsbild handelt, was somit vom Kinderarzt eine ärztliche Fortbildung erfordert. Neben der guten medikamentösen Behandlung sollten zunehmend auch die Möglichkeiten einer guten psychologischen Therapie genutzt werden können. Dies ist jedoch leider derzeit durch die geringe Anzahl von Verhaltenstherapeuten begrenzt.

Quelle: http://www.aerztlichepraxis.de/aktuell/artikel/1114080463/paediatrie/aktuell 22.04.05
 
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