Wichtig -  Mißstände bei Rechenschwierigkeiten

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yacofred

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17. März 2005

Offener Brief

an die Ministerin für Bildung, Frauen und Jugend in Rheinland-Pfalz, Frau Doris Ahnen, zu den Mißständen an rheinland-pfälzischen Schulen unter denen Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Fach Mathematik zu leiden haben:

- mangelnde Bereitschaft für flankierende schulische Maßnahmen bei besonderen Schwierigkeiten im Fach Mathematik
- ungenügende oder fehlende inhaltliche, individuelle Lernstandsdiagnostik
- dementsprechend meist zu unspezifische und dadurch oft schädliche Förderung im Fach Mathematik.


Sehr geehrte Frau Ahnen,

bei unserer Arbeit mit rechenschwachen Kindern benötigen wir eine gute Zusammenarbeit mit den jeweiligen Schulen. Mit vielen Schulen, insbesondere Grundschulen, funktioniert dies auch. Leider aber erleben wir es regelmäßig, daß Schulen - auch einzelne Grundschulen - sich teilweise oder auch ganz gegen eine Zusammenarbeit mit uns sperren, indem sie Gesetze einseitig im Sinne einer "Selektionsgerechtigkeit" interpretieren und/oder sich auf kontraproduktive pädagogische Argumentationen berufen.

Wir TherapeutInnen vom Rechenschwächeinstitut-Volxheim vertreten folgenden Standpunkt:

Notwendige flankierende Maßnahmen zur Unterstützung einer Rechenschwächetherapie oder einer mathematischen Förderung sind in den meisten Fällen:
Aussetzen der Zeugnisnote, Befreiung von Klassenarbeiten, Entbindung von der Pflicht zur mündlichen Mitarbeit und der Pflicht zur Erledigung der regulären Hausaufgaben oder auch alternativ in bestimmten Fällen:
Anpassung der Anforderungen im Mathematikunterricht an den individuellen Lernstand gemäß einer vorhergegangenen sorgfältigen individuellen Lernstandsanalyse.
In allen Schulstufen und Schularten sind solche Maßnahmen bei den betroffenen Kindern notwendig - nicht nur in den Grund- und Förderschulen!

Von vielen SchulleiterInnen - vor allem an weiterführenden Schulen - werden jedoch, trotz der vom Ministerium immer wieder betonten Priorität individueller Förderung an allen Schulstufen (siehe auch: §10 und §19 des neuen Schulgesetzes von Rheinland-Pfalz), weiterhin folgende Behauptungen gegen wichtige flankierende Maßnahmen bei mathematischer Förderung aufgestellt und hartnäckig vertreten:

1. Eine gesetzliche Grundlage für das Aussetzen der Mathematik-Note gebe es nicht.
2. Die aktuelle Mathematik-Note - im Zeugnis und bei Klassenarbeiten - sei für einen späteren Schulabschluß unbedingt notwendig.
3. Ein betroffener Schüler versäume zuviel Stoff bzw. verliere den Anschluß, wenn er im Fach Mathematik für längere Zeit keine Klassenarbeiten mehr mitschreiben müsse und nur individuell angepaßte oder gar keine Hausaufgaben aufbekomme. Außerdem sterbe man nicht daran, wenn man Hausaufgaben mache, Klassenarbeiten mitschreibe und Noten bekomme.
4. Förderdiagnostische Gutachten (speziell individuelle mathematische Lernstandsanalysen außerschulischer Institute) seien - auch weil von Amts wegen nicht anerkannt (im Unterschied zu Sonderschultests) - für den Umgang mit Kindern im Unterricht irrelevant.

Notwendige Maßnahmen zur flankierenden Begleitung von Rechenschwächetherapien oder anderer mathematischer Förderungen werden mittels solcher Argumente regelmäßig abgelehnt bzw. gar nicht erst in Erwägung gezogen. Schädigungen betroffener Kinder werden billigend in Kauf genommen. Die Routine eines selektionseffektiven Unterrichts hat an solchen Schulen Priorität und aufkommende "Erwartungshaltungen" von Eltern werden in die Schranken gewiesen.

Richtigzustellen ist dabei Folgendes:

Ein Kind, das - nachgewiesen durch eine sorgfältige Lernstandsanalyse - über keine gesicherten Grundlagen im Verständnis der Mathematik verfügt und sich deswegen jahrelang mit auswendig gelernten Fragmenten und Phantasie-Regeln durchgeschlagen hat, versäumt nichts, wenn es vom "Mitlernen" auf dem klassenbezogenen, unverstandenen Niveau eine Zeit lang freigestellt wird. Im Gegenteil: Der Zweck einer Notenaussetzung, vorläufige Freistellung von Klassenarbeiten, Hausaufgabenerlaß oder -erleichterungen ist gerade, daß nicht weiter ohne Sinn und Verstand gebüffelt wird und dadurch völlig falsche Vorstellungen über den Lerngegenstand Mathematik schädlicherweise verfestigt werden (Rechenschwäche, subjektive Algorithmen). Außerdem ist inzwischen nicht nur bei Psychologen bekannt und gilt als erwiesen, daß durch massive Überforderungen im Fach Mathematik, schwere Persönlichkeitsstörungen und chronische Versagermentalität hervorgerufen und verfestigt werden (siehe auch: §35a/KJHG und die Arbeitshilfen dazu). Alleine schon durch flankierende Maßnahmen, wie weiter oben beschrieben, wird solchen Entwicklungen oft bereits die Spitze genommen und eine neue Lernperspektive eröffnet. Mittel für die Dokumentierung einer gescheiterten mathematischen Lernentwicklung ist idealiter eine individuelle mathematische Lernstandsanalyse (Methode: diagnostisches Interview) - nicht das Mitschreiben von Klassenarbeiten. Auch die in Rheinland-Pfalz durchgeführten VERA-Vergleichsarbeiten bringen keine sicheren Detailkenntnisse über mathematische Kenntnisse einzelner Kinder hervor (siehe auch: ZTR-Analyse zu Vergleichsarbeiten, 2004 - im Anhang bei den Internet-Texten).

Warum sind nicht sorgfältige individuelle Lernstandsanalysen im Fach Mathematik eine eigene Pflichtleistung der Schulen? Nur so erhält die LehrerIn einen echten Einblick ins mathematische Denken der Kinder, der es erlaubt zu beurteilen, ob Schüler ein tragfähiges Wissen erworben haben. Dann würde sich bereits in der Schule (vor-) abklären lassen, inwiefern eine Sonderstellung der SchülerIn und individuelle Fördermaßnahmen sachlich begründet sind.

Sorgfältige individuelle Lernstandsanalysen, die individuelle mathematische Förderungen und begleitende flankierende Maßnahmen begründen, müssen ernstgenommen werden. Wir erstellen oft solche Gutachten, bevor die Schule Fördermaßnahmen in Betracht gezogen hat. Wenn man dann allerdings den diesbezüglichen Ergebnissen, sofern sie inhaltlich im Grundsatz unbestritten sind, keine entsprechenden Maßnahmen folgen läßt, heißt das: Schädigungen der betroffenen SchülerInnen werden bewußt in Kauf genommen. Ergebnisorientierte Übungen und Fleißarbeiten ohne Bezug auf solches diagnostisches Wissen über den Lernstand werden an Schulen viel zu oft als "Förderempfehlung" erster Wahl betrachtet. Dies ist pädagogisch wie mathematisch mindestens eine grobe Fahrlässigkeit.

Angesichts des Arguments, wegen der Gerechtigkeit gegenüber den anderen Schülern könne und wolle man keine Rücksicht auf Schüler mit massiven Mathematikproblemen nehmen, muß man sich über die Abneigung vieler LehrerInnen gegen förderdiagnostisches Vorgehen bei Mathematikproblemen nicht wundern. Dieses Argument ist eine sehr häufig von LehrerInnen verwendete Rechtfertigung für die Priorität der Schülerselektion an den Schulen.

Verunsicherte Eltern werden, wie wir leider immer wieder erfahren müssen, mit verschiedenen Varianten der oben (s.o.: 1-4) aufgezählten Behauptungen regelrecht eingeschüchtert. In vertraulichen Besprechungen überredet man Eltern betroffener Kinder, von Forderungen nach flankierenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Es wird an "Vernunft, Realitätssinn und Harmoniebedürfnis" appelliert. Um die Schule nicht zu verärgern und möglichen Benachteiligungen des Kindes in der Schule zu entgehen, stimmen Eltern nicht selten zu, von Forderungen nach Rücksichtnahmen wieder Abstand zu nehmen.

In vielen Ihrer Reden und Diskussionsbeiträge beschwören Sie, Frau Ahnen, die Priorität der individuellen Förderung an allen Schularten (siehe auch: neues Schulgesetz) - gerade während des letzten Halbjahres, in dem Sie den Vorsitz der KMK inne hatten. Wir gehen davon aus, daß dies kein Alibistandpunkt und keine Wahlpropaganda gewesen ist, sondern daß Sie echte Veränderungen herbeiführen wollen.

Wir bitten Sie um Stellungnahme zu den oben beschriebenen Fakten und um Abhilfe gegenüber den Mißständen an vielen Schulen.

* Helfen Sie Eltern, sich gegen Willkür und Inkompetenz zu wehren!
* Sorgen Sie dafür, daß Schulen nicht mehr damit argumentieren, der Schulrat habe solche Standpunkte (s.o.: 1-4) bestätigt!
* Verhindern Sie, daß - wie bereits vorgekommen - landesweit tätige Fortbilder des PZ/IFB in Rheinland-Pfalz sich persönlich mit altbekannten Falschargumenten gegen Rücksichtnahmen wie Notenaussetzungen für Kinder mit Mathematikproblemen aussprechen!
* Schützen Sie Schüler davor, ein Schulleben lang chancenlos einem Unterricht hinterherlaufen zu müssen, den sie bereits seit Jahren nicht mehr verstanden haben!

Es darf nicht sein, daß Alltagsroutine und Auslesepriorität den Ansatz individueller Mathematik-Förderung kaputt machen, wodurch in der Folge auch die allgemeine geistige, psychische und soziale Entwicklung vieler Schulkinder geschädigt wird.

Mit freundlichem Gruß

Friedrich H. Steeg, Dipl.Psych., Dr.rer.soz.
Jacqueline Vogel, Dipl.Päd.
Jutta Brettschneider, Dipl.Päd.
http://www.rechenschwaecheinstitut-volxheim.de
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Wir TherapeutInnen vom RESI-Volxheim werden eine evtl. Antwort von Frau Ahnen auf unserer Homepage veröffentlichen und würden uns freuen, wenn auch hier in den Elternforen die Teilnehmer ihre Meinung zum offenen Brief und Ihre Unterstützung ausdrücken würden.
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Gruß Fred Steeg
 
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