Idee/Tipp -  Väter, Mütter, Steinzeitbabys

X

x_lady

Guest
Väter, Mütter, Steinzeitbabys

Warum schreit das Baby, wenn wir doch alles richtig gemacht haben? Warum nur schläft es in seinem süßen Bettchen im wunderschönen Kinderzimmer nicht ein? Vater oder Mutter werden war nicht schwer, doch in solchen Momenten verzweifeln viele Eltern. Schauen wir doch mal, was unsere nächsten Verwandten mit ihren Babys machen.

Nach der erfolgreichen Suche nach dem richtigen Partner widmen wir uns also der Aufzucht unserer Kinder. Vielen Eltern sind dabei schon graue Haare gewachsen. Abseits der zahlreichen Ratgeberbücher finden wir Erziehungshilfe auch bei den Evolutionsbiologen: Sie vergleichen, was sie bei unseren nächsten Verwandten an reichhaltigen Erklärungen für unser menschliches - oder eben äffisches - Aufzuchtverhalten entdecken. Und vieles ist nach wie vor ziemlich ähnlich. Es beginnt schon mit dem Zeitpunkt der Geburt.

Die Geburt zur dunklen Stunde

In Kreißsälen herrscht Hochbetrieb zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden: Die allermeisten Menschenkinder kommen nachts auf die Welt. Auch bei unseren äffischen Verwandten gehört das Kinderkriegen nicht zur "Tagesordnung". Die Nachtgeburt ermöglicht es einer frischgebackenen Mutter, Anschluss an ihre Gruppe zu behalten, wenn diese beim ersten Tageslicht weiterzieht. Dieses Verhaltensmuster der nächtlichen Geburt lebt im Menschen weiter - sozusagen als ein dunkles Echo.

Menschenjunges - auch nach neun Monaten noch eine Frühgeburt

Gemessen an den Babys unserer Affenverwandtschaft zeigt ein Menschenjunges recht wenig Selbstständigkeit. Unsere Babys sind im Vergleich zu Affenbabys bei der Geburt eher unterentwickelt - aber aus gutem Grund: Das Gehirn von Menschen ist sehr viel größer. Würde der Kopf im Bauch der Mutter vollständig heranreifen, würden die Babys ab einem gewissen Zeitpunkt der Gehirnentwicklung nicht mehr durch den Beckenboden passen. Die Schwangerschaft wird sozusagen nach neun Monaten "nach draußen" verlegt.
Das verdaute Affenkleid
Dass unsere Urahnen noch ein Fell trugen, ist dem neugeborenen Menschen übrigens anzusehen: Menschenbabys kommen mit einem Restflaum auf die Welt. Und auch die erste Windel birgt eine Überraschung: Denn das Ungeborene trug ein dichtes Fell, das abgeworfen und mit dem Fruchtwasser geschluckt wurde. Schließlich wird es verdaut ausgeschieden - das so genannte Kindspech.



Kuscheln ist wichtiger als Waschen

Erst kurz vor der Geburt werden wir zum wirklich nackten Affen - und der wird gründlich sauber gehalten. Beim Reinigen der Kinder sind wir in unserer modernen Zeit Weltmeister. Unsere Verwandten sind da weniger penibel: Affenmütter lecken ihre Jungen sauber oder säubern sie ein bisschen mit den Händen. Doch es hat durchaus Vorteile, wenn die Hygiene nicht übertrieben wird: Durch den stetigen, engen Kontakt mit ihren Kleinen nehmen Affenmütter zwangsläufig auch Spuren von deren Kot oder Urin auf. Der mütterliche Körper gewinnt so unbewusst Informationen über die Schwächen und Krankheiten der Kleinen und entwickelt Abwehrstoffe, die über die Milch an die Kinder weitergegeben werden. Dieser Kreislauf kann beim Menschen durch extreme Reinlichkeit leicht unterbunden werden. Besonders Flaschenkinder müssen gänzlich ohne die mütterliche Medikation auskommen. Vermutlich leiden sie deshalb besonders häufig an Asthma oder Allergien, die somit zu Recht Zivilisationskrankheiten genannt werden.


Das erste Kind - und tausend Fragen

Schwanger? Erstmal in die Buchhandlung.
In den westlichen Industriestaaten beginnt die Kinderaufzucht mit Ratlosigkeit und jeder Menge Fragen: Ist es normal, dass mir plötzlich von meinem Lieblingsparfum schlecht wird, sollte der Bauch nicht schon größer sein, kann mich mein Baby im Bauch schon hören, schadet es dem Baby, wenn ich jetzt noch Wände streichen lasse, bekomme ich ein schöneres Baby per Kaiserschnitt? Solche oder ähnliche Fragen hat jede werdende Mutter. Allein die Situation, dass sie nicht weiß, wen sie fragen soll, ist neu. Die Familien sind oft zersplittert, weit verstreut. Der Griff zu Regelwerken und Ratgebern ist da nur zu verständlich.

Wo bleibt die innere Stimme?

Nicht nur Instikt
Auch bei Affen spielt Erfahrung mit Jungen eine Rolle: Das erste Kind hat schlechtere Überlebenschancen als die weiteren. Offenbar können auch Affenmütter durch Erfahrung dazulernen.

Nicht anders geht es den jungen Eltern, wenn der Sprössling schließlich da ist: Das Baby ist das erste Baby, das sie auf dem Arm haben. Woher wissen sie, was sie mit dem Kind machen sollen? Pädagogen raten dazu, auf Bücher zu verzichten und stattdessen auf die innere Stimme zu hören. Viele Eltern wissen ganz genau, was sie in einer Situation gerne tun würden: Zum Beispiel das Baby auf den Arm nehmen, wenn es schreit. Wenn da nicht die Zeitgenossen gute Tipps geben würden, dass man das Kind nicht zu sehr verwöhnen solle. Wie einfach haben es da doch unsere Verwandten: Keiner sagt Ihnen, was sie tun oder lassen sollen, stattdessen spricht ihre innere Stimme noch deutlich.

Sind Affeneltern die besseren Eltern?

Affenbabys schreien so gut wie nie - wie schaffen das die Eltern? Forscher sehen bei uns Menschen ein Problem in der Fütterungspraxis: Der Stillplan schreibt alle vier Stunden eine Mahlzeit vor. Doch das Kind schreit nicht nach der Uhr, sondern wenn es Hunger hat - und das passiert vielleicht schon wieder eine halbe Stunde nach dem Stillen. Die Muttermilch ist - ähnlich wie von Affen - nicht sehr fettreich. So sind auch unsere Babys evolutionär darauf angelegt, einen relativ freien und beständigen Zugang zur Brust zu haben.

Kuscheln, kuscheln, kuscheln

Ein Neugeborenes greift nach dem "Fell".
Die Evolutionsbiologen haben noch andere Erziehungsmängel bei uns Menschen aufgedeckt: Im Vergleich zu Menschenbabys haben Affenbabys ständig engen Körperkontakt zu ihren Müttern. Sie tragen die Kleinen einfach mit sich herum. Und eigentlich bräuchten die Menschenbabys das genauso. So wollen die Hände eines Neugeborenen noch immer in ein vertrautes Fell greifen, sogar die Füße versuchen noch immer mit Zehen Halt zu finden, obwohl sie gar nicht mehr für das Festhalten gemacht sind.

Warum sollten Menschenbabys andere Bedürfnisse haben?

Affenbabys sind alleine hilflos, Menschenbabys sogar noch hilfloser. Wenn der Körperkontakt zu der Mutter abreißt, kann das lebensbedrohlich sein. Deshalb wollen Babys beständige Nähe, denn Kuscheln und Herumtragen signalisiert ihnen Sicherheit. Der Schluss der Evolutionsbiologie liegt nahe: Wenn das Menschenbaby mit seinen Reflexen sein Erbe so deutlich zeigt, warum sollten dann seine Bedürfnisse wesentlich anders sein als die der Affenkinder?
 
X

x_lady

Guest
Einsam einschlafen ist nicht

Das Geschaukel im Kinderwagen signalisiert den Kindern, "da ist noch einer, wenn ich jemanden brauche". Herumgefahren zu werden beruhigt Kinder deshalb und sie schlafen im Kinderwagen oft besonders gut ein. Aber zufrieden sind Evolutionsbiologen mit diesem Liegendtransport noch nicht. Wir modernen Eltern glauben, dass unsere kleinen Lieblinge eigentlich "Lieglinge" sind. Doch das ist falsch: Babys können zum Beispiel nur auf kurze Distanzen - etwa 18 bis 25 Zentimeter - scharf sehen. Liegen sie im Kinderwagen ist das Gesicht der Bezugsperson viel zu unscharf, um es zu erkennen oder die Mimik wahrzunehmen.

"Tragling" statt "Liegling"

Wissenschaftlich gesehen sind unsere Kleinen "Traglinge" - sie wollen herumgetragen werden. Zwar hat die Evolution den Frauen Taille und Hüften beschert, auf denen ein Baby seitlich fast wie auf einem Sattel sitzen kann. Doch anstrengend ist das Tragen auf die Dauer trotzdem - jedenfalls in unserem Kulturkreis.

Der tägliche Kampf ums Einschlafen

Das Einschlafen im Kinderzimmer macht dagegen meist noch mehr Probleme als das Schlafen im Kinderwagen: Das Zimmer ist schön hergerichtet, die Vorhänge zugezogen, alles ist ruhig und still - und trotzdem wollen die Kleinen nicht schlafen. Evolutionsbiologen überrascht das Verhalten nicht: Dunkle, einsame Zimmer sind nicht das, was Kinder diesen Alters erwarten: Sie wollen Teil einer sozialen Gemeinschaft sein. Sie erwarten, dass die Bezugspersonen als schützende Personen im Hintergrund dabei sind. Die Ruhe signalisiert für sie hauptsächlich eines: verlassen sein. Unsere hilflosen "Frühgeburts"-Babys fühlen sich im einsamen Bettchen schlichtweg in ihrem Leben bedroht. Logisch, dass ein Baby lautstark den Versuch unternimmt, den Kontakt zu den Eltern wieder herzustellen.

Die Mär vom Durchschlafen

Kein Einzelbett
Eine Schimpansenmutter baut jeden Tag ein neues Schlafnest für die Nacht. Sie würde niemals auf die Idee kommen, für ihr Kind ein eigenes Nest zu bauen.

Die Eltern dagegen sehnen sich die Zeit herbei, wenn das Baby endlich durchschläft. Doch Evolutionsbiologen müssen auch hier widersprechen: Auch wenn die äußeren Bedingungen stimmen, also Bezugspersonen in der Nähe sind, schlafen Babys nicht durch. Das stört allerdings nur Eltern in den westlichen Kulturen. In Gesellschaften, die ihre Kinder ursprünglicher betreuen, ist es ganz normal ist, dass Kinder mit acht Monaten noch zehn Mal in der Nacht aufwachen und gestillt werden.

Immer kuscheln - und wo bleibt die Selbstständigkeit?

Sozialaffe
Es gibt bei Affenforschern den Satz: "Ein Affe ist kein Affe". Er beschreibt die Abhängigkeit der Primaten von Sozialkontakten und Artgenossen. Alleinsein ist kein Leben für einen Affen, weil es den Tod bedeuten kann.

Wenn man ein Schimpansenbaby fragen könnte, ob es sich schon einmal einsam gefühlt hat, würde es vermutlich antworten, dass es Einsamkeit nicht kennt. Wir hingegen lernen sehr früh das Gefühl des Verlassenseins kennen - es ist sogar Bestandteil moderner Erziehung. Bei der Erziehung von Kleinkindern in westlichen Industriegesellschaften wird an allererster Stelle Selbstständigkeit gefördert. Eltern ist sehr wichtig, dass kleine Kinder so früh wie möglich alleine zurecht kommen sollen. Eine völlig neue Idee in der Evolution: Tausende von Eltern-Generationen haben engsten Kontakt zu ihren Kindern zugelassen, und plötzlich nimmt im 20. und 21. Jahrhundert die Idee überhand, Kinder sollen schon im Kleinkindalter alleine zurechtkommen. Da stößt der "Tragling" an seine Grenzen, denn auf das Alleinsein in diesem Alter hat uns die Evolution nicht vorbereitet.


Tränenreicher Abschied von der Evolution?


Die Welt angstfrei entdecken - und jederzeit zur Mutter zurückkehren können.
Vergleichsstudien haben gezeigt, dass gerade in traditionellen Gesellschaften, wo sehr viel Körperkontakt und Zuwendung in den ersten Jahren gegeben wird, die Kinder früher selbstständig werden. Sie haben zum Beispiel zu einem früheren Zeitpunkt sich selbstständig von den Eltern entfernt, mit anderen Kindern Kontakt aufgenommen und waren insgesamt in ihrer Entwicklung weiter fortgeschritten. Offenbar kommt es also auf die Freiwilligkeit an, sich von Bezugspersonen zu entfernen - und die Möglichkeit zu haben, jederzeit zurückzukehren wie das Affenbaby zur Mutter.

Das Alleinsein lernt man am besten zu zweit

Ein Kind braucht vor dem Alleinsein das Gefühl der Sicherheit: Die Bezugsperson muss in der Nähe sein, das Kind muss das Gefühl haben "Jemand ist bei mir". Der Spielplatz kann ein idealer Platz dafür sein: Viele andere Menschenkinder sind dabei und die Umgebung lockt zum angstfreien Entdecken. Wenn jetzt bloß nicht die Eltern kommen und sagen: "Vorsicht, du tust Dir weh", "Nicht so hoch, sonst fällst Du runter", "Mach das nicht, Du verletzt Dich nur" - und was uns sonst noch an gut gemeinten Drohungen einfällt. Viel wichtiger wäre es, dass die Eltern sagen: "Da sind große Steine" oder "Hier ist es steil" - so dass das Kind merkt, das es vorsichtig sein muss.

Das Handwerkszeug eines erfolgreichen Erwachsenen

Der auf Selbstständigkeit ausgerichtete Erziehungsstil bereitet auf ein Leben in der anonymen Massengesellschaft der Großstadt vor. In Deutschland leben die meisten Menschen in Städten und dort sind keine engmaschigen sozialen Netze vorhanden - man muss alleine zurechtkommen, sich behaupten, konkurrieren. Theoretisch zumindest behandeln wir "Westler" unsere Kinder also nicht schlecht, sondern wir bereiten sie auf die Welt vor, in der sie nun mal leben werden.

Wie viel Affe steckt noch in uns?

Doch 99,9 Prozent der Zeit unserer Entwicklung haben wir als Jäger und Sammler in einem kleinen sozialen Umfeld verbracht. Wir haben unsere Kinder gehegt und gepflegt wie es Affeneltern tun. Auf dem Weg zum modernen Einzelkämpfer könnten wir auch Fähigkeiten eingebüßt haben, die jetzt wieder gefordert werden: Soziale Kompetenz. Oder einfacher gesagt: Mit unseren Mitmenschen gut auskommen. Haben wir vor lauter Alleinzurechtkommen schon verlernt, uns mit den eigenen Artgenossen zu verstehen? Das hätte noch kein Affe vor uns geschafft. Wenn wir akzeptieren, dass mehr von unserem uralten Erbe in uns weiterlebt, als wir gewöhnlich meinen: Was sollten wir dann mit unseren Kindern machen?

Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist die Sache klar: Auch wenn sie im Computerzeitalter geboren werden, unsere Babys bleiben Steinzeitbabys und wollen auch so behandelt werden.​
 
Oben