Hallo,
in diesem Thread mixen sich eine Reihe von sehr wichtigen Themen zusammen, und ich hoffe, dass ich es schaffe, meine Gedanken dazu einigermaßen verständlich darzustellen - denn da ist der "Amoklauf" (dieser Begriff ist für diese Tat eigentlich fehl am Platze). Und da sind die persönlichen Geschichten von Rojo und Baccogirl.
Ich fange in diesem Posting zunächst einmal mit Allgemeinem an, und erkläre, warum das Ereignis in Lörrach und die beiden hier vorliegenden Geschichten nicht zusammen passen, auch wenn man auf den Blick eine Querverbindung ziehen zu können scheint - immerhin äußern beide Posterinnen eine ziemliche Wut auf ihre Kinder, und Rojo hat auch offen eingestanden, bereits an Gewaltanwendung gedacht zu haben, was eine Aussage ist, die einiges an Mut erfordert.
Ich muss gestehen, dass ich einer von denen bin, die versuchen, Täter wie die Frau in Lörrach zu verstehen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich die Taten solcher Menschen weg erklären möchte. Viel mehr ist es unerlässlich, die inneren Abläufe, die solche Menschen vor der Tat durchmachen, nach vollziehen zu können, um daraus dann ein Rezept dafür entwickeln zu können, derlei Tatabsichten zu erkennen, bevor jemand zu Schaden kommt.
Leider wissen wir über die genauen Abläufe vor einem "erweiterten Suizid", wie solche Taten genannt werden, noch nicht besonders viel, und wir wissen noch viel weniger über das, was in Lörrach geschehen ist, weil diese Tat von einer Frau begangen worden ist, und weil dieser erweiterte Suizid zudem auch Menschen einbezogen hat, mit denen die Dame nicht verwandt gewesen ist. Beides ist eine Seltenheit: Normalerweise, in an die 99 Prozent aller Fälle, werden erweiterte Suizide von Männern, aus der Mittel- oder Oberschicht, mittleren bis fortgeschrittenen Alters, in Kleinstädten oder Vororten und ausschließlich an der eigenen Familie, nicht aber an Außenstehenden begangen. Und: In so gut wie allen Fällen in der westlichen Welt droht die Familie auf die eine oder andere Weise zusammen zu brechen. Wir wissen, dass dies der Auslöser ist: Der betreffende Täter sieht sich als Patriarch, der über seine Familie herrscht, die zudem Teil seines Außenbildes ist - sein Job, sein Haus, seine Familie sind Teil seines "Image", aus dem sich wiederum sein gesamtes Selbstbewusstsein nährt. Seine Familie zu töten stellt die ultimative Durchsetzung dieses Besitz- und Machtanspruches dar: "Ihr gehört mir, und zwar in alle Ewigkeit." Dabei gibt es allerdings die Variation, in der zum Beispiel der Vater den Job verliert, und die Lebensgrundlage der Familie zu zerbrechen droht: "Ich muss Euch beschützen."
Warum allerdings die meisten einfach nur weiterleben und weiterleben lassen, und einige wenige wiederum "klicken" und solche Taten begehen, wissen wir bislang noch nicht.
In Lörrach könnten sich die Rollenmuster zwischen den Geschlechtern umgekehrt haben, wobei auffällt, dass sie ihren Sohn erstickt hat, während die anderen Opfer erschossen worden sind. Männer erstechen oder erschlagen in solchen Fällen eher, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Person für sie selbst dann keine Bedeutung hat, wenn sie vor sich selbst behaupten, das Opfer durch die Tötung beschützen zu wollen. Das kindliche Opfer ist nur eine Sache, die man in eine andere Welt schafft, wo man dann für immer und ewig zusammen ist. Wie man in diese andere Welt kommt, hat dabei keine Bedeutung - anders als in vielen Fällen bei der Ehefrau, deren Körper meist Zeichen von Wut aufweist.
In Lörrach hat die Täterin hingegen wenn auch keine schnelle, dann aber eine für sie sanft wirkende Methode für ihr Kind gewählt - so als sei die Tötung des Kindes schweren Herzens erfolgt, aber als unausweichlich gesehen worden. Warum? Das werden die kommenden Tage zeigen. Der Rest des Verbrechens sieht eher nach Rache aus, an jenen, denen sie die Schuld dafür gibt - was dann eher dem klassischen Amoklauf entspricht, wie man ihn aus Schulen kennt.
Deshalb ist diese Tat mit der Gewaltphantasie von Rojo nicht zu vergleichen - die Motivlage ist eine völlig andere: Rojo hat in einem Moment der völligen Entkräftung und Hoffnungslosigkeit solch unbeschreibliche Wut verspürt, dass sie fast zugestochen hätte. Die Aussage: "Halt' endlich mal die Klappe." Nur: bei den weitaus meisten Menschen, und wohl auch bei Rojo, gibt es im Kopf eine "Tötungssperre", die verhindert, dass aus Gewaltphantasie Realität wird, es sei denn, man schafft es, das Opfer derart zu entmenschlichen, dass der Täter es nicht mehr als lebendiges Wesen sieht. Häufig allerdings führt eine derartige Wuterfahrung zu einem dermaßigen Schock, dass der oder die Betreffende für sehr lange Zeit nicht wieder daran denkt, einem Menschen körperlich weh zu tun.
Viele Grüße,
Ariel