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Reproduktionsmedizin - 1. Einleitung

1. Reproduktionsmedizin – Einleitung

Ungewollt kinderlose Paare können heute auf Fortpflanzungstechnologien (im Folgenden auch Reproduktionsmedizin, Fortpflanzungstechnologien, medizinisch assistierte Fortpflanzung, Unfruchtbarkeits- oder Kinderwunschbehandlung genannt) wie Befruchtungen im Reagenzglas oder anonyme Samenspenden zurückgreifen, um ihren Kinderwunsch zu realisieren. In Deutschland kam 1982 erstmals ein Kind nach medizinisch assistierter Fortpflanzung zur Welt. Bis zum Jahr 2004 nahmen jährlich etwa 200.000 Paare die Reproduktionsmedizin hierzulande in Anspruch. Seit der Gesundheitsreform vom 1. Januar 2004 können sich viele Paare eine Kinderwunschbehandlung jedoch nicht mehr leisten, da die Kosten nicht mehr allein von den gesetzlichen Krankenkassen gedeckt werden, sondern die Hälfte von den Paaren selbst gezahlt werden müssen. Deshalb ist die Zahl der reproduktionsmedizinischen Behandlungen von mehr als 100.000 im Jahr 2003 auf weniger als 50.000 im Jahr 2004 gesunken. Im Jahr 2007 sind in Deutschland 5.104 Neugeborene zur Welt gekommen, die außerhalb des Mutterleibes (in vitro) gezeugt wurden.

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Ungefähr drei bis neun Prozent aller in Deutschland lebenden Paare gelten als ungewollt kinderlos. Dieser Anteil wird steigen: Etwa infolge der Tendenz zur späten Mutterschaft geht eine gewollte häufig in eine ungewollte Kinderlosigkeit über, wenn Frauen wegen Karriereaspirationen oder dem Wunsch nach Selbstverwirklichung die Mutterschaft so lange aufschieben, bis biologische Grenzen wirksam werden (fertile Phase: 15 – 45 Jahre, späte Mütter: 35 Jahre und älter). Im Zuge der Pluralisierung der Familienformen kommen weitere Gruppen hinzu, welche die Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen möchten, um sich ihren Wunsch nach leiblichen Kindern zu erfüllen. Dazu gehören alleinstehende Personen und gleichgeschlechtliche Paare. Außerdem möchten Frauen und Männer, die sich sterilisieren ließen und dies im Rahmen einer neuen Partnerschaft bereuen, die Fortpflanzungstechnologien nutzen.

Ist infolge der Reproduktionsmedizin eine Schwangerschaft eingetreten, kann die kindliche Entwicklung mithilfe der Prönataldiagnostik (PND) überwacht werden. Im Zuge einer medizinisch assistierten Fortpflanzung muss die Qualitätskontrolle des Embryos aber nicht erst im Mutterleib (in vivo) beginnen. Durch die Präimplantationsdiagnostik (PID) können embryonale Zellen bereits in vitro auf Behinderungen , Krankheiten , aber auch auf Geschlecht oder Augenfarbe untersucht und gegebenenfalls ausselektiert und vernichtet werden. Thomas Schramme (2002) stellt fest, dass somit eine neue Vision entsteht: Menschen können nicht nur durch die Reproduktionsmedizin gezeugt, sondern ihre Eigenschaften auch nach individuellen Wünschen von potenziellen Eltern festgelegt werden.

Die PID ist in Deutschland wegen des geltenden Embryonenschutzgesetzes (EschG) nicht erlaubt, weil diese Diagnostik auch darauf abzielt, embryonale Zellen zu vernichten, die sich theoretisch zu einem Individuum entwickeln können. über deren Einführung hierzulande wird allerdings diskutiert: BefürworterInnen argumentieren, dass auch erblich belastete Paare durch die PID mit hoher Wahrscheinlichkeit gesunde Kinder bekommen könnten. KritikerInnen fühlen sich hingegen an die Eugenik des Dritten Reiches erinnert: Auch dort wurde zwischen hoch- und minderwertigen Personen unterschieden und die „Defekten“ wurden vernichtet. Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau warnte vor den langfristigen, negativen Folgen, die mit der Einführung der PID einhergehen können: Werde diese im Rahmen von reproduktionsmedizinischen Behandlungen erlaubt, würden auch die Paare, die auf natürlichem Wege Kinder bekommen können, eine Kinderwunschbehandlung nutzen wollen, um eine PID vornehmen zu lassen und somit sicher zu gehen, dass ihr Nachwuchs keine Erkrankung oder Behinderung hat. Gesellschaftlich könne sich die Haltung entwickeln, dass ein „Recht“ auf ein gesundes Kind für jedes Paar mit Kinderwunsch bestehe. Rau sieht bei der Einführung der PID die Gefahr des „Dammbruchs“: Werde z. B. das Indikationsspektrum von an sich akzeptable vorgeburtliche Diagnostiken ausgeweitet, auf etwa die Feststellung von Haar- und Augenfarbe, werde möglicherweise ein Weg eingeschlagen, der letztlich in einer inakzeptablen Lage ende.

Die Folgen der Fortpflanzungstechnologien, deren Einsatz zu Familiengründungszwecken sowie deren steigende Bedeutung für ungewollt kinderlose Paare werden in der familiensoziologischen Forschung bisher kaum untersucht. Auch die subjektiven Sichtweisen derjenigen, welche diese Technologien nutzen, werden bislang in den wissenschaftlichen oder ethischen Diskussionen wenig berücksichtigt. In dieser Masterarbeit steht daher die subjektive Sicht von in Deutschland lebenden Paaren in Kinderwunschbehandlung auf die Möglichkeiten der medizinisch assistierten Fortpflanzung, PND und PID im Mittelpunkt. Aus welchen Motiven entscheiden sich diese Paare für eine Unfruchtbarkeitsbehandlung und wie erleben und bewerten sie diese? Welche Einstellung haben sie gegenüber der PND und PID? Wie wirkt sich die Zeugung von Nachwuchs ohne Sexualität auf die Paarbeziehung aus? Wie gehen Paare mit der Art der Familiengründung gegenüber dem sozialen Umfeld um? Im Kapitel (Kap.) 2 werden zugrunde liegende Begriffe dieser Arbeit definiert, wobei Ergebnisse empirischer Studien einfließen. Zunächst werden die Motivation zur Elternschaft aus theoretischer und empirischer Perspektive (Kap. 2.1.1) sowie die medizinischen Ursachen der ungewollten Kinderlosigkeit dargelegt (Kap. 2.1.2). Dann stehen die Möglichkeiten der medizinisch assistierten Familiengründung im Mittelpunkt. Erfasst werden die in Deutschland erlaubten reproduktionsmedizinischen Techniken, Anwendungsgebiete, Erfolgsraten und institutionellen Beschränkungen (Kap. 2.1.3.) sowie die gesundheitlichen Risiken für die Patientinnen und deren Nachwuchs (Kap. 2.1.4). Im Kap. 2.1.5 werden die Möglichkeiten und Ziele der vorgeburtlichen Diagnostik vorgestellt. Die PID wird dabei berücksichtigt, weil es möglich ist, dass diese auch in Deutschland in Zukunft eingeführt wird. Deshalb sollen die Einstellungen und Bewertungen der Kinderwunschpaare zu dieser Methode erfasst werden. Anschließend werden ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehungen aus theoretischer Perspektive beleuchtet, da diese als dritte Personen an der Zeugung von Nachwuchs eines Paares beteiligt sind und sie möglicherweise die subjektiven Sichtweisen oder Entscheidungen der Paare beeinflussen (Kap. 2.1.6).

Familiengründungen und -formen werden nicht nur durch Fortpflanzungstechnologien, sondern auch durch gesellschaftliche Prozesse variabel. Dazu gehört etwa die Individualisierung, die seit den 1960er Jahren in den westlichen Ländern zu beobachten ist und z. B. von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1994) vertreten wird. Die Individualisierungsthese verweist u. a. auf erweiterte Optionen und Handlungsfreiheiten hinsichtlich der Familienbildungsprozesse und bietet einen Bezugsrahmen, in dem Themenfelder und Konflikte aus der Perspektive des Individuums analysiert werden können. Im Kap. 2.2.1 wird zunächst auf die erweiterten Handlungsspielräume eingegangen, die sich für Familiengründungen und -formen ergeben. Dann werden die Entstehungs- und Begründungszusammenhänge von Elternschaft im Kontext der Reproduktionsmedizin beschrieben (Kap. 2.2.2). Anschließend werden familiäre und soziale Beziehungen thematisiert. Empirische Untersuchungen zeigen, welchen Einfluss Familiengründungen mithilfe der Reproduktionsmedizin auf das familiäre und soziale Umfeld haben (Kap. 2.2.3).

Im Rahmen der Fortpflanzungstechnologien und vorgeburtlichen Diagnostik tauchen Widersprächlichkeiten und Konflikte auf, womit sich insbesondere Beck-Gernsheim (1991, 1998) beschäftigt, weshalb deren Ausführungen im Mittelpunkt stehen: Demnach steigen im Zuge der Fortschritte in der Reproduktionsmedizin die Erwartungen von potenziellen Eltern an die Gestaltbarkeit des Nachwuchses (Kap. 2.3.1). Daneben können Handlungszwänge für Eltern entstehen, existierende medizinische Maßnahmen in Anspruch nehmen zu müssen (Kap. 2.3.2). Bezug nehmend auf die theoretischen Hintergrundinformationen und den Forschungsstand werden die Fragestellung in Unterfragen differenziert und Thesen formuliert, an denen sich die Analyse orientiert (Kap. 3).

Da die Fragestellungen auf subjektive Sichtweisen, Motive und Einstellungen abzielen, werden sie mit qualitativen Forschungsmethoden untersucht. Im Kap. 4 werden die Prinzipien der qualitativen Forschung erläutert, wodurch die Auswahl eines qualitativen Ansatzes für diese Arbeit deutlich wird (Kap. 4.1). Dann wird das Forschungsdesign – Sampling, Basisdesign, zeitliche Dimension, Feldzugang – dargelegt (Kap. 4.2). Als Datenerhebungsinstrument wird das problemzentrierte Interview (PZI) angewendet, das im Kap. 4.3 beschrieben sowie dessen Auswahl für die Fragestellung begründet wird. Anschließend werden Fragebogenkonstruktion (Kap. 4.4), Datenerhebung und die sich dabei ergebenen Probleme dargelegt (Kap. 4.5). Der methodische Teil schließt mit der Erklärung und Begründung der Auswertungsstrategie (4.6).

Im Kap. 5 werden die deskriptiven Ergebnisse der Interviews dargestellt. Bezug nehmend auf Forschungsthesen werden die Ergebnisse der Datenerhebung interpretiert (Kap. 6). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Kritik bilden den Schlussteil der Arbeit (Kap. 7).