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Reproduktionsmedizin - 2.2 Elternschaft im Kontext der Fortpflanzungstechnologien

2.2 Elternschaft im Kontext der Fortpflanzungstechnologien

2.2.1 Definition von Familie

Der Normaltypus Familie (auch Kern- oder bürgerliche Kleinfamilie) definiert sich nach Rosemarie Nave-Herz (2007) u. a. durch das Merkmal, dass Eltern sowohl die reproduktive, als auch die sozialisierende Funktion übernehmen. René König (1946) bezeichnete dieses Charakteristikum als biologisch-soziale Doppelnatur. Auch für Franz-Xaver Kaufmann (1990) ist eine biologische Verbindung zwischen Eltern und Kind konstitutiv für die Familie. Dieser Familientyp trifft auf die Mehrheit der Bevölkerung zu. Dennoch sind u. a. durch die Fortpflanzungstechnologien – wie anonyme Samenspenden – auch vom Normaltypus abweichende Familienformen möglich.

Familiengründungen und -formen werden zudem durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse wie die Individualisierung beeinflusst. Der Individualisierungsbegriff ist mehrdeutig: In struktureller Hinsicht beziehen Beck und Beck-Gernsheim (1994) ihn auf die Freisetzung des Individuums aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhönge. In kultureller Hinsicht verknüpfen sie den Begriff mit dem Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen. Der Individualisierungsprozess erfolgt in mehreren Etappen. Der erste Schub begann mit der Bildung der Industriegesellschaft und erstreckte sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Er betraf hauptsächlich die männlichen Lebensläufe. In der Nachkriegszeit bzw. in den 1960er Jahren setzte der zweite Individualisierungsschub ein. Mit dem Ausbau des wohlfahrtsstaatlich organisierten Arbeitsmarktes, einem hohen gesellschaftlichen Wohlstandsniveau („Fahrstuhleffekt“) sowie der Ausweitung der schulischen und beruflichen Qualifizierung veränderten sich auch die weiblichen Lebensläufe. Die biografische Selbstverständlichkeit von Mutterschaft ließ nach, da die berufliche Karriere mit der Familiengründung konkurrierte.

Am Beispiel der Eheschließung zeigt sich, dass sich seit den 1960er Jahren durch die Individualisierung der normative Druck zur Heirat reduziert hat. Die Ehe ist zu einer Entscheidung geworden, die individuell begründet werden muss und nicht mehr durch systemexterne Bedingungen (rechtliche, normative Nicht-Akzeptanz vorehelicher sexueller Kontakte) oder der Gewährleistung materieller Versorgungen motiviert wird. Familienformen weisen zwar bereits im 19. Jahrhundert eine hohe Variabilität auf und eine Vielzahl von Kindern wuchs mit einem nicht-genetischen Elternteil auf, z. B. in Stieffamilien. Diese Familienkonstellationen ergaben sich beispielsweise durch die hohe Sterblichkeit von Ehepartnern. Im Rahmen der Individualisierung sind diese vom Normaltypus abweichenden Familienkonstellationen aber das Produkt individueller Entscheidungen bzw. des Verlustes normativer Verbindlichkeiten. Sie werden auch unter dem Begriff der Pluralisierung von Familienformen zusammengefasst. Bei der Pluralitätsthese muss berücksichtigt werden, dass heterogene Familienformen lediglich Optionen darstellen, die im Vergleich zur traditionellen Kernfamilie in der Empirie wenig vorhanden sind.

Familiäre Strukturen haben sich in den vergangenen Jahren ausdifferenziert, sind variantenreicher geworden und können anhand der Familienbildungsprozesse, woraus sich verschiedene konstitutive Merkmale ergeben, unterschieden werden. Dabei bleibt die natürliche Reproduktionstriade bzw. biologisch-soziale Doppelnatur entweder erhalten oder löst sich auf. Somit können neben ehelichen Eltern-Kind-Gemeinschaften, die auf der biologischen Elternschaft basieren und dem traditionellen Familientypus entsprechen, auch nicht-eheliche heterosexuelle und gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern oder Alleinerziehende unter den Begriff Familie gefasst werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Kinder leiblich, adoptiert, durch homologe Inseminationen (IUS, IVF, ICSI, KT) oder Samenspenden gezeugt worden sind. Als Inseminationsfamilien werden im Folgenden nur jene Familien bezeichnet, bei denen sich die biologisch-soziale Doppelnatur auflöst bzw. die mithilfe der Samenspende eine Familie gegründet haben.