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Reproduktionsmedizin - 6.6 These - Antithese 4: Umgang mit Familiengründungsart?

6.6 These – Antithese 4: Umgang mit Familiengründungsart?

 

Die Antithese 4 (vgl. Kap. 3), die besagt, dass die Paare zu einem offenen Umgang gegenüber dem familiären und sozialen Umfeld tendieren, wenn sie keine Stigmatisierungen befürchten, kann zum Teil bestätigt werden. Entscheidend für die Strategie des Umgangs der Paare gegenüber dem familiären und sozialen Umfeld waren Alters- oder Generationenunterschiede und/oder wie nahe die Personen dem Paar standen. Die Befragten informierten zunächst nahestehende FreundInnen, dann Familienmitglieder und schließlich entfernte Verwandte und Bekannte. Dabei ging es ihnen überwiegend um eine psychische Entlastung oder um das reine Informieren ohne Erwartungshaltung etwa hinsichtlich der emotionalen Unterstützung. Zur Tabuisierung gegenüber weniger nahestehenden Personen entschieden sich die meisten Paare, weil die Familiengründung als Privatangelegenheit betrachtet oder der Aufbau einer Druckkulisse möglichst vermieden werden sollte. Beim familiären Umfeld bedingte außerdem der Generationenunterschied, dass Themen nicht angesprochen wurden, welche die Fortpflanzung betrafen (vgl. Kap. 2.2.3, 5.5.2). Das berufliche Umfeld wurde meist nur über die Behandlung informiert, wenn dies zur Koordination von Behandlung und Arbeitszeiten notwendig war. Der überwiegende Anteil verschwieg ArbeitskollegInnen die reproduktionsmedizinische Behandlung, da diese als Privatsache angesehen wurde. Besonders die Interviewpartnerinnen hatten Angst vor Kündigungen, wenn sie ihre Familiengründungspläne dem beruflichen Umfeld offenbarten, wobei diese auch unabhängig von der Art der Zeugung des Nachwuchses befürchtet wurden (vgl. Kap. 5.5.4). Im Gegensatz zu den Beobachtungen von z. B. Schaible (1992) oder Thorn (2008), in denen Inseminationsfamilien dazu neigten, die Art der Familiengründung aus Angst vor Diskriminierungen oder Ächtung zu verschweigen (vgl. Kap. 2.2.3), bevorzugte das Paar in dieser Stichprobe, das eine DI in Anspruch nahm, einen offenen Umgang gegenüber großen Teilen des familiären und sozialen Umfeldes. Entfernten Bekannten, Verwandten oder fremden Personen wurde die anonyme Samenspende jedoch verschwiegen. Der Spender wurde u. a. nach äußerlichen Ähnlichkeiten zum sozialen Vater ausgewählt, wobei interpretativ unsicher bleibt, ob das Paar damit eine „Normalisierung als ob“-Strategie (Hoffmann-Riem 1990, vgl. Kap. 2.2.3) verfolgte. Das Vorgehen des Paares deutet darauf hin, dass es nur gegenüber entfernten Bekannten oder fremden Personen versuchte, die Fiktion der genetischen Elternschaft aufrechtzuerhalten, während dies bei nahestehenden FreundInnen und dem familiären Umfeld nicht der Fall war (vgl. Kap. 5.5.2).

Das familiäre Umfeld der Paare akzeptierte in den meisten Fällen die Entscheidungen der Paare, wenngleich einige Personen – meist die Eltern der Paare – Bedenken äußerten oder skeptisch reagierten, etwa in Bezug auf Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Behandlung. Bei anderen Paaren prägte das katholische Weltbild ihrer Eltern die subjektive Sichtweise auf die Reproduktionsmedizin und rief zurückhaltende Reaktionen hervor. Im familiären Umfeld der DI-Familie und dem gleichgeschlechtlichen Paar gab es Personen, welche die Arten der Familiengründungen bzw. -konstellationen nicht akzeptierten. Auch Personen aus dem sozialen oder beruflichen Umfeld, die über die Behandlung informiert wurden, reagierten überwiegend positiv und anteilnehmend. Besonders jene, die ebenfalls ungewollt kinderlos waren oder eine reproduktionsmedizinische Behandlung hinter sich hatten, zeigten Empathiefähigkeit und Verständnis für die Paare (vgl. Kap. 5.5.2).

Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Untersuchung von Schaible (1992), in der ca. 94 Prozent der Eltern, die eine DI nutzten, dem Kind nicht die Wahrheit sagen wollten (vgl. Kap. 2.2.3), befürworteten in dieser Stichprobe alle Paare, dass die Kinder aufgeklärt werden (vgl. Kap. 5.5.5). Hinsichtlich der Aufklärung bei segmentierten Elternschaften decken sich die Aussagen der Inseminationsfamilien in diesem Sample mit den Beobachtungen von Thorn (2008), die feststellte, dass diese Familien immer häufiger zur Offenheit gegenüber dem Kind tendieren, besonders wenn das familiäre und soziale Umfeld eingeweiht ist (vgl. Kap. 2.2.3). Alle Paare begründeten ihre Strategie der Aufklärung damit, dass die Nutzung der reproduktionsmedizinischen Behandlung den Kindern verdeutliche, wie sehr sie gewünscht und geplant sind. Zudem gaben viele Befragte an, dass die Fortpflanzungstechnologien weitestgehend gesellschaftlich akzeptiert seien, weshalb keine Gefahr bestehe, dass die Kinder durch die Art ihrer Zeugung in eine Sonderrolle gedrängt oder diskriminiert werden. Vor allem in den Inseminationsfamilien spielte die Aufklärung des Kindes eine zentrale Rolle. Sie argumentierten, dass sie aufgrund der Besonderheit der Familienkonstellation notwendig sei, um Schäden im familiären Sozialgefüge und kindliche Identitätskonflikte zu minimieren. Die DI-Familie bediente sich englischsprachiger Ratgeber als Aufklärungshilfe. Dies weist darauf hin, dass hierzulande ein Bedarf nach solchen Hilfen besteht, wenngleich der Anteil der Inseminationsfamilien im Vergleich zu anderen Ländern eher gering ist. Darüber hinaus berücksichtigten dieses Paar und die Alleinerziehende wissenschaftliche Stellungnahmen, in denen das Thema Aufklärung bei Spendersamenkindern behandelt wird (vgl. Kap. 5.5.5).