banner-elternforen-1

Reproduktionsmedizin - 2.1.2 Ungewollte Kinderlosigkeit und deren Ursachen

2.1.2 Ungewollte Kinderlosigkeit und deren Ursachen

 

Kinderlose Paare gab es in historischer Perspektive zu allen Zeiten, in allen Kulturen und sozialen Schichten. Heike Goebel (2008) merkt an, dass die biologische Reproduktion bis in die 1970er Jahre in den westlichen Gesellschaften forciert wurde, indem kinderlose Ehepaare diskriminiert wurden, weil sie der normativen oder gesellschaftlichen Erwartung nicht entsprachen. Kinderlosigkeit galt als etwas Unnatürliches oder Abweichendes, und kinderlose Paare wurden häufig in eine Sonderrolle gedrängt. Deren Diskriminierung lässt erst seit den 1980er Jahren nach, da im Zuge der Individualisierung (vgl. Kap. 2.2.1) die Selbstverständlichkeit von Ehe und Kindern ihre Verbindlichkeit verloren hat. Trotzdem wird die Pflicht zur Mutterschaft nach Wiebke Stein und Elke Sproll (1995) auch heute kaum in Frage gestellt, da die biologische Reproduktion in Gesellschaften für die Sicherung der Nachkommenschaft und der Wiederherstellung der menschlichen Arbeitskraft von Bedeutung sind.

Corinna Onnen-Isemann (2008) unterscheidet zwischen Verzögerinnen (späte Mutterschaften) bewusst kinderlosen Frauen oder ungewollt kinderlosen Frauen bzw. Paaren. Bei den späten Müttern kann die Kinderlosigkeit durch strukturelle Faktoren, wie mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedingt sein. Bei Frauen, die bewusst kinderlos bleiben, können beispielsweise subjektive Faktoren wirken, wie hohe Karriereaspirationen oder Selbstverwirklichungswünsche. Bei ungewollt kinderlosen Frauen bzw. Paaren können medizinische Ursachen verantwortlich sein, die in dieser Arbeit im Vordergrund stehen, da sie der Hauptgrund für Kinderwunschbehandlungen sind. Bei etwa 30 Prozent der kinderlosen Paare liegen die medizinischen Ursachen bei der Frau, bei ungefähr 40 Prozent beim Mann. Ursachen für weibliche Fruchtbarkeitsstörung sind u. a. hormonelle Störungen, Endometriose (Erkrankung der Gebärmutterschleimhaut), Bildung von Spermaantikörpern oder allgemeine Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes. Männliche Fruchtbarkeitsstörungen können etwa durch Verschluss der Samenwege, zu geringe Spermienproduktion, Störungen der Spermienreifung durch z. B. eine Hodenhochstand-OP im Kindesalter oder chemische Substanzen (z. B. Nikotin, Alkohol, Pestizide) bedingt sein. Bei 15 bis 25 Prozent der ungewollt kinderlosen Paaren zeigt sich eine eingeschränkte Fruchtbarkeit bei beiden Partnern. Bei fünf bis zehn Prozent lässt sich keine organische Ursache feststellen. Diese sogenannte ideopathische Sterilität kann z. B. durch Entbindungsangst oder bereits ausgelebte Mutterschaft verursacht werden. Angenommen wird dabei, dass sich diese psychischen Faktoren auf die physische Ebene auswirken.

Goebel (2008) hat in einer empirischen Studie gezeigt, in der sie die Beratung und Seelsorge von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch aus verhaltens- und kulturwissenschaftlicher Sicht beleuchtete, dass ungewollte Kinderlosigkeit und Unfruchtbarkeit von vielen Paaren als die größte Lebenskrise in ihrem bisherigen Leben empfunden wird. Sowohl Frauen als auch Männer reagieren auf den unerfüllten Kinderwunsch mit Ängstlichkeit, Unsicherheit bis hin zur Depression. Die Diagnose Sterilität erleben sie häufig als schwerwiegenden Makel. Christa Hoffmann-Riem (1990) konstatiert, dass sich bei ungewollter Kinderlosigkeit der Kinderwunsch steigern kann, weil das Kind zur Einlösung des eigenen Biografieentwurfes gebraucht wird. Dabei spielt häufig die genetische Abstammung eine Rolle, die als konstitutives Element der Elternschaft angesehen wird. Im Gegensatz zur z. B. Adoption ermöglichen einige Methoden der Reproduktionsmedizin (z. B. homologe intrauterine Insemination, vgl. Kap. 2.1.3), dass die geplante Elternrolle auch genetisch begründet werden kann. Die hohe Bedeutung der genetischen Abstammung des Kindes von den Eltern zeigte sich etwa auch bei einer empirischen Studie von Onnen-Isemann (2000). Sie untersuchte zwischen 1993 und 1995 die subjektive Wahrnehmung der Lebensqualität von Paaren in reproduktionsmedizinischer Behandlung mithilfe qualitativer und teilstandardisierter Methoden. Im Ergebnis stellte sie fest, dass die Befragten eine kindorientierte Ehe eingingen, die für diese Paare ohne leibliche Kinder kaum vorstellbar war. Daher erschien eine reproduktionsmedizinische Behandlung als einzige Option für die Realisierung des Kinderwunsches. Stefan Siegel, Ralf Dittrich und Jürgen Vollmann (2008) befragten für das Zentrum für medizinische Ethik in Bochum mithilfe teilstrukturierter Interviews die erste Generation der Familien in Deutschland, die eine In-vitro-Fertilisation (IVF, vgl. Kap. 2.1.3) nutzten und die zwischen 1982 und 1986 entbunden haben. Dabei kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen wie Onnen-Isemann. Der Wunsch nach einem Kind, das genetisch von den Eltern abstammt, sowie der Wunsch, eine Schwangerschaft zu erleben, motivierte die befragten Paare zur Elternschaft. Daher hatten sie sich für die Kinderwunschbehandlung und nicht für eine Adoption entschieden. Die Reproduktionsmedizin wird als Strategie zur Erfüllung des Kinderwunsches betrachtet, wobei die Künstlichkeit der Methode negiert oder nicht reflektiert wird.