Hallo,
naja, der Mathelehrer steht nicht auf unser Urlaubsgrußliste. Aber er ist seitdem auch nicht mehr der Mathelehrer von irgendeinem meiner Jungs, und wird es auch nie wieder sein.
Ich muss aber auch sagen, dass sie trotz ein paar ziemlichen Nieten einige sehr wunderbare Pädagogen gibt, die nicht nur mehr oder weniger nutzvolles Wissen einpauken, sondern mit ihren Schülern gemeinsam Wissen erarbeiten und dabei die persönliche Entwicklung fördern.
Da ist zum Beispiel Os Hebräisch-Lehrerin, die Os persönliche Geschichte zum Anlass genommen hat, um ihren Schülern die Sprache völlig neu beizubringen. Man muss dazu wissen, dass das moderne Hebräisch eine sehr junge, und damit sehr knappe Sprache ist, die allerdings auf einer sehr viel älteren, sehr viel reicheren Sprache aufbaut. Viele Autoren verwenden deshalb sprachliche Fomen aus biblischen Zeiten, um sich auszudrücken, mit dem Ergebnis, dass sie in ihrer ganzen Schönheit für sehr viele Menschen hier verschlossen bleiben: Man versteht die gesellschaftliche und / oder politische Aussage, die durch die Geschichte gemacht wird, aber sehr oft werden die feinen Nuancen, die durch die Sprache zum Ausdruck gebracht werden, nicht verstanden - und schon gar nicht von Jugendlichen, die oft einen für Erwachsene unverständlichen Slang sprechen, was dann übrigens auch Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung von Heranwachsenden haben kann: Jemand der viele Wort hat, kann das, was er fühlt und will besser ausdrücken, aber ob er verstanden wird, ist noch lange nicht gesagt. Unverständnis, unerfüllte Bedürfnisse und die erhöhte Hormonausschüttung während der Pubertät sind allerdings eine Mischung, die potentiell gefährlich ist, weil sie die Aggression steigern kann. Aber selbst wenn das nicht passiert, was glücklicherweise meistens der Fall ist, verschließt mangelnde Ausdrucksfähigkeit die Möglichkeit, seine Gedanken in Worte zu fassen - Gedanken sind nun mal oft so komplex, dass man sie nicht in ein Wort fassen kann. Und O, der mit 12 das letzte Mal in einer Schule gewesen war, und das auch nur, weil es da was zu essen gab, konnte kaum ein Wort gerade aussprechen, das für uns verständlich war (wie Y es damals geschafft hat, in nur drei Tagen O verstehen zu lernen, habe ich bis heute nicht verstanden).
Damals haben wir O übrigens zu etwas gezwungen, denn das können wir auch, und zwar ohne Reue: Er war im Gefängnis, als wir ihn zum ersten Mal trafen, und meine Frau und ich fangen in solchen Situationen definitiv keine Diskussionen über die Notwendigkeit unserer Maßnahmen an. Was damals genau passiert ist, schreibe ich später ausführlich. Mein Punkt im Moment ist, dass wir mit dem Jungen, den wir so gut wie gar nicht kannten, und von dem wir nur wussten, was Y uns erzählt hatte, nämlich dass er völlig am Ende ist, nicht reden konnten: Wir haben das, was er sagte zum größten Teil nicht verstanden. Und das was wir verstanden haben, konnten wir bei aller Toleranz nicht akzeptieren: Dafür war sein Slang zu heftig. Und er hat uns auch nicht verstanden - vielen Menschen geht das so: Unsere Wortwahl ist zu elitär. Also haben wir ihm Aufgaben gegeben: Er sollte uns Aufsätze zu bestimmten Themen schreiben - was drin stand, war egal, bis auf die Vorgabe, dass keine Schimpfworte enthalten sein durften. Wir haben ihm auch Aufsätze geschrieben, und ziemlich bald hat er angefangen, uns zu fragen, was gewisse Worte bedeuten. Das war der Eisbrecher: Er wollte uns verstehen. Unsere Psychologin hatte uns geraten, unsere eigene Sprache nicht nach unten anzupassen, und lieber viel Geduld zu üben und es hat sich ausgezahlt.
Zu den Aufsatzaufgaben gehörten ab einem bestimmten Punkt auch Analysen von Romanen, was eigentlich nur dazu gedacht war, seinen Wortschatz weiter auszubauen, weshalb wir eigentlich nur leichte Sachen wie Kischon auf der Liste hatten. Nur hat die Sache irgendwann eine Eigendynamik entwickelt, als O ein Buch von Amos Oz mit dem Titel "Lada'at Ischah" " (eine Frau erkennen) in die Hände fiel, und er von Y wissen wollte, was der Autor mit dem Titel meint, weil der für ihn keinen Sinn ergab: Lada'at, erkennen, ist zwar ein altes Wort, wird aber in der heutigen Sprache nahezu ausschließlich auf der Linie des deutschen Verbs "wissen" (ich weiß, dass...) benutzt. Für "kennen" benutzt man indes das Verb "Lehakir" (Präsens: makir, makirah, makirim, makiroth). Y sagte ihm, dass "Lada'at Ischah" bedeute, Sex mit einer Frau zu haben, und wir erklärten ihm, dass das viel mehr als das bedeutet: eine Frau zu lieben.
Ich kann nur darüber spekulieren, was sich im Kopf des Jungen abspielte, aber er vergrub sich Wochen lang in dieses Buch, um seinen Inhalt zu erforschen, und es hat ihn sehr stark verändert: Der Stolz, dieses recht komplizierte Buch, erobert zu haben, gepaart mit dessen Geschichte von Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, Misstrauen und Verlangen nach Liebe, erobert zu haben, hat ihm Selbstbewusstsein gegeben, der noch Monate zuvor als lernbehindert und hoffnungsloser Fall abgetan worden war.
Die Hebräischlehrerin hat diese Begeisterung weiter getragen, indem sie versucht, den Schülern die Bedeutung der Sprache aufzuzeigen, und sie macht das mit Engagement und Erfolg.
Aber wie ich ja schon bereits beschrieben habe, sind leider nicht alle ihre Kollegen so - die Kids sind unzufrieden mit ihrer Schule. Womit ich beim Entscheiden und Diskutieren unter normalen Bedingungen bin.
Wir überlassen unseren Kindern so viele Entscheidungen wie möglich, die sie selbst betreffen, und beschränken uns auf das Anleiten: Wir möchten, dass sie, soweit möglich, selbst Ansätze entwickeln und auf ihre Umsetzung hinarbeiten. Das hat kaum etwas mit Therapie zu tun, sondern eher mit der Art von Mensch, die meine Frau und ich auf Grund unserer eigenen persönlichen Erfahrungen heran ziehen möchten. Meine Frau hat in ihrer Jugend selbst so gut wie alle Entscheidungen vorgegeben bekommen, und ihre Eltern versuchen es immer noch; ich bin in einem sehr freien Elternhaus aufgewachsen. Wir sind beide, vor allem durch den Beruf, den wir Jahre lang gemeinsam ausgeübt haben, Journalismus, darauf geeicht, Entscheidungen im Team zu treffen, und ich wurde während des Studiums zudem darauf gedrillt, vor einer Entscheidung alle Optionen zu beleuchten. Das möchten wir auch an die Kinder weiter geben, was ihnen, wie wir mittlerweile festgestellt haben, das Gefühl gibt, dass ihre Ideen und Gedanken etwas zählen, dass sie die Macht haben, etwas zu bewegen.
Die Informationen, die man benötigt, um eine informierte Entscheidung zu treffen, sind heutzutage leicht im Internet verfügbar - man muss nicht telefonieren, oder sich Gesetzestexte kaufen, oder was immer man sonst braucht besorgen. Aber ich halte es auch für extrem wichtig, dass Jugendliche lernen, brauchbar und unbrauchbar im Netz voneinander zu filtern.
Wenn die Jungs nicht zufrieden mit ihrer Schule sind, und die Lehrer mit ihren Fragen nerven, dann sollen sie sich bitteschön auch selbst Gedanken darüber machen, was man tun kann, außer eine Massenpanik im Kollegium zu erzeugen. Das israelische Schulgesetz bietet eine Reihe von Möglichkeiten, die man sich leicht erarbeiten kann - wir erklären nur die Teile, die sie nicht verstehen. Meine Frau und ich werden den Teufel tun, uns die anderen Eltern krallen, zum Bildungsministerium gehen und sagen: "Unsere Kids lernen in dem Laden nicht, was sie brauchen; wir machen unsere eigene Schule auf." Rauszufinden, dass die Möglichkeit besteht, hat zwar eine Weile gedauert, aber sie haben es raus gefunden - und keiner der Jungs ist ein Einserschüler. Natürlich begleiten wir das, und weisen auf Denkfehler oder fehlende Informationen hin und kritisieren auch die geplante Vorgehensweise, aber die endgültige Entscheidung müssen sie selber treffen, so lange sie nicht zu uns kommen und sagen: "Wir möchten, dass Ihr mal eben eine Entscheidung trefft."
Ich habe mich nie mit dem klassischen Satz "So lange Du Deine Beine unter meinen Tisch stellst, wird gemacht, was ich sage" anfreunden können - irgendwann gelten die Kinder als erwachsen. Aber kann man sie wirklich als erwachsen betrachten, wenn sie erst dann damit beginnen, zu lernen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen?
Viele Grüße,
Ariel