Ja, zwischen den Märchen der Gebrüder Grimm und denen von Hans Christian Andersen besteht ein großer Unterschied, den ich selber beim Vorlesen spüre! Mich bedrücken die Märchen von Andersen auch heute noch, und ich kann mich gut dran erinnern, dass ich das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern als Kind auch ganz schlimm und belastend fand.
Die Grimm Märchen haben mir stellenweise auch Angst eingejagt - aber auf eine ganz andere Art ... irgendwie offensichtlicher. Ich wusste danach genau, dass ich vor HEXEN Angst habe - und hatte nicht nur dieses merkwürdige, ungute und total traurige Gefühl.
Die Argumente aufzuzählen, die für die unzensierte Form der Märchen sprechen, würde den Rahmen echt sprengen. Ein bisschen was kann ich versuchen:
1. Seit Jahrhunderten sind diese Märchen Kulturgut. Sie wurden erzählt und weiterentwickelt, bis sie in ihrer jetzigen Form aufgeschrieben wurden. Sie gehören also schon sehr sehr lange zum Aufwachsen einfach dazu. Sie vermitteln ein ganz archetypisches menschliches Denken und Streben in einfachen, gradlinigen Bildern.
2. Märchen belehren in der Regel nicht (dafür sind z.B. Fabeln zuständig), sondern es steht jedem frei, sich das aus ihnen herauszuziehen, was er für Bemerkenswert hält. Märchen funktionieren durch die Identifikation mit dem Guten. Gerade heute, wo Kinder mit so vielen Regeln und Beliebigkeiten konfrontiert werden, kann diese klare Sichtweise ein Segen sein für die Herausbildung der Moral.
3. Kinder WOLLEN sehen, dass das/der/die Böse bestraft wird, und zwar gründlich. Kinder haben diesen Sinn für Gerechtigkeit und wären enttäuscht oder verwirrt oder unbefriedigt, wenn das, was so furchteinflößend ist, am Ende davonkäme. Dieses "am Ende siegt das Gute" ist eine ganz starke Botschaft, die einem Kind ganz viel Halt und Sicherheit geben kann.
Und so weiter, es geht noch ganz tief in die Tiefenpsychologie rein 8)
Ab wann Märchen? Richtig sinnvoll werden sie wohl bei Kindern so ab vier/fünf Jahren. Ich denke mal, dann haben die meisten auch die entsprechende Aufmerksamkeitsspanne und den Durchblick, um auch Fragen stellen zu können.
Meine Tochter schreckt vor den Grausamkeiten in Märchen übrigens auch überhaupt nicht zurück - allerdings bevorzugt sie, wenn sie Geschichten erfindet oder nachspielt, eher die Variante "Der oder die Böse wird am Ende gut und alle sind Freunde". Das denkt SIE sich aber dann aus, es ist IHR wichtig und ich akzeptiere das natürlich :love1
Ps: Es gibt übrigens auch moderne Märchen, und ihr durchschlagender Erfolg ist ein Beweis dafür, wie sehr sich auch moderne Menschen nach diesen Archetypen sehnen.
Was? Ihr kennt das Beispiel nicht??
---> Harry Potter!
