Hallo,
ich denke, Ihr habt alle drei bis zu einem gewissen Grade Recht: Man muss auf das Weinen achten. Man sollte aber nicht immer gleich die Flaggen auf Halbmast runter senken. Und Freddy hat gleich einen möglichen Ansatz geliefert, was bei der Tochter der Ausgangsfragestellerin das Problem sein könnte. Aber zu alledem später mehr.
Wir müssen uns bewusst sein, dass es so etwas wie "grundloses Weinen" nicht gibt. Eine Vielzahl von Emotionen, auch Unterbewussten, kann den Prozess des Weinens hervor rufen; es ist eine sehr raffinierte Schutzfunktion des Körpers, auch wenn die Forschung bis heute nicht wirklich heraus gefunden hat, worin sie genau besteht, diese Schutzfunktion. Da ist zum Beispiel die Sache, dass geweinte Tränen sich grundlegend in der Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit unterscheiden, die zur Befeuchtung des Augapfels da ist: In Wein-Tränen lassen sich Hormone nachweisen, und auch die chemischen Elemente Kalium und Mangan. Es ist gut möglich, dass sich der Körper dadurch "reinigt" und den Hormonhaushalt in eine Art Gleichgewicht bringt. Aber wirklich sicher ist sich die Wissenschaft da nicht: Es gibt eine Studie, in der davon ausgegangen wird, dass Weinen auch ein soziales Verhalten ist - der Mensch teilt seiner Umwelt damit mit, dass sich in ihm gerade ein Gefühlsereignis abspielt.
Es ist sehr gut möglich, dass alle diese Theorien zutreffend sind, und wenn das so ist, dann kann man, darf man die Tränen eines Menschen nicht über einen Kamm scheren: Weinen kann so vieles sein; es kann von Freude über Wut bis tiefster Trauer alles ausdrücken und es kann auch ein Druckmittel sein - es kann sehr gut sein, dass selbst der Mensch selbst nicht sagen kann, was davon gerade genau zutrifft.
Wie gesagt: Es gibt kein grundloses Weinen. Aber das bedeutet nicht, dass wir den Grund dafür kennen. Unser Körper ist so derart komplex, dass es uns ohne Training kaum möglich ist, unsere Gefühle genau einzuordnen, sie in Worte zu fassen, und zu erkennen, warum wir gerade so fühlen. Wie soll das also eine Zwölfjährige können?
Ich fange mal bei Ilona an: Deine Vermutung, dass es mit den hormonellen Umbauprozessen der Pubertät und den Einflüssen einer sich für diesen jungen Menschen wandelnden Welt zu tun haben kann, könnte zutreffen, wo dann Freddies Aussage ins Spiel käme: "zur Ruhe kommen". Mir ist an der Beschreibung der Fragestellerin aufgefallen, dass die Tochter immer abends vor dem einschlafen weint, während sie tagsüber fröhlich sei. Gut möglich, dass sie tagsüber "so auf Trab" ist , dass für Emotionen keine Zeit mehr bleibt, und die einzige Zeit zum nachdenken, die alleine im Bett ist. Mir fällt auf, dass viele Kinder und Jugendliche heute einen Terminplan haben, der genauso voll ist wie meiner, und das in einer Zeit des Lebens, in der sich der Körper, die eigene Gefühlslage, aber auch das Verhältnis zu den Bezugspersonen verändert - wann soll sich der Körper darauf einstellen? Wann gibt es Zeit zum Verarbeiten, zum Reflektieren?
Dann von einer Depression zu sprechen, ist ein extrem dünnes Eis, auf dem sich momentan sehr viele Leute tummeln: Es hat einen sehr prominenten Depressionsfall gegeben, und deshalb ist in den Augen vieler, jeder, der Emotionen zeigt, gleich depressiv. Was nicht bedeutet, dass Depression eine überschätzte Krankheit ist: Sie kommt oft vor, und Menschen, die darunter leiden, wurden Jahrzehnte lang marginalisiert. Aber es bedeutet nicht, dass jeder, der weint, Depressionen hat. Weinen bedeutet ja nicht mal unbedingt, dass der Mensch traurig ist.
Die modernen Medien, diese ungeheuerlich große Flut an Informationen, zeigen uns, was alles schief gehen kann, was erst einmal gar nicht so schlecht ist: Patienten sind heute informierter als je zuvor, und Langzeitfolgen von unerkannten Verletzungen und Erkrankungen können damit eingedämmt werden (in der Theorie). Aber sie führen auch dazu, dass viele Menschen stets vom Schlimmsten ausgehen, zumal sich auch die Normen dessen, wie sich Kinder und Jugendliche zu verhalten haben, verschoben haben. Zum Beispiel AD(H)S. Ich erinnere mich daran, dass in meiner Schulzeit zwei, drei Kinder in der Grundschule, die nicht mitkamen, die extrem auffällig waren, von allen, und vor allem den Erwachsenen an den Rand gedrängt wurden: "Die sind zu dumm". "Aus denen werden mal Kriminelle". "Die Eltern haben in der Erziehung versagt". Heute weiß man, dass diese Kinder möglicherweise AD(H)S hatten, und man kann allen ein recht normales Leben ermöglichen. Aber daraus ist auch ein "Hype" geworden: Normal sind ruhige ausgeglichene Kinder; Eltern von Kindern, die diese Norm nicht erfüllen, pochen gleich darauf, dass ihr Kind AD(H)S hat. Das sind die beiden Seiten der Medaille, die bedauerlicherweise auch für das Thema Depression gelten: Man kann sich superschnell "hochschaukeln", weil im Internet ja steht, was alles schlimmes passieren kann.
Ich sage: Wahrscheinlich hat das Mädchen einfach nur keine Zeit zum Verarbeiten. Vielleicht fehlt ihr Zuneigung, die Umarmung zwischendurch, die den Halt gibt, der die Hormone von Jugendlichen auszubalancieren hilft - vielleicht, ich weiss es nicht, denn die Angaben sind zu wenige.
Ich denke, auch Maju hat recht: Man muss nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, aber es gibt durchaus auch Menschen, die davon ausgehen, dass Familie eine einzige Ansammlung von Tragödie zu sein hat. Aber ich denke nicht, dass es deshalb gut ist, Kinder und Jugendliche, die weinen, gar nicht zu beachten: Natürlich kann Weinen auch ein Druckmittel sein. Es kann dazu benutzt werden, den extra so positionierten Schokoloaden-Riegel an der Supermarkt-Kasse aus Mamma heraus zu pressen. Aber ob das so ist, muss man im Zusammenhang mit der Situation entscheiden.
Viele Grüße,
Ariel