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Reproduktionsmedizin - 2.2.3 Familiäre und soziale Beziehungen

2.2.3 Familiäre und soziale Beziehungen

 

Unter familiäre Beziehungen fallen Paarbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen. Johannes Huinink und Dirk Konietzka (2007) definieren die Paarbeziehung als exklusive dyadische Beziehung zwischen zwei Erwachsenen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts, die sich durch Liebe, persönliches Vertrauen und sexuelle Interaktion kennzeichnet. Als Eltern-Kind-Beziehung bezeichnen sie die soziale Beziehung zwischen zwei Erwachsenen und ihrem Kind, die meist auf genetischer Abstammung beruht, aber im Falle der DI nicht dadurch begründet sein muss. Unter familiäre Beziehungen fallen in dieser Arbeit auch die Beziehungen der Paare zu ihren Herkunftsfamilien (Eltern, Großeltern, Geschwister). Laut Kaufmann (1990) ist die Familie zwar der Inbegriff des Privaten. Sie lebt aber nicht isoliert, sondern pflegt soziale Beziehungen zum familiären und sozialen Umfeld, wozu Verwandte, NachbarInnen, FreundInnen und ArbeitskollegInnen gehören.

Die Nutzung von reproduktionsmedizinischen Behandlungen zur Familiengründung kann familiäre und soziale Beziehungen beeinflussen: Nach Herbert Schweizer (2007) wird durch eine Zeugung von Nachwuchs, die ohne sexuellen Verkehr stattfindet, die Reproduktionsarbeit rationalisiert, wodurch die emotionale Liebesgeschichte eines Paares irrelevant wird. Sexualität, Liebe und Fortpflanzung werden durch eine medizinisch assistierte Fortpflanzung entkoppelt, wodurch die Paarbeziehung instabil werden kann. Außerdem sind Paare in reproduktionsmedizinischer Behandlung langfristigem Stress – sowohl physischem als auch psychischem – ausgesetzt. Mirjam Widmer und Guy Bodenmann (2008) stellen fest, dass sich dieser negativ auf die Partnerschaftsqualität und -stabilität auswirken kann. Dies zeigt sich etwa dadurch, dass sich die Kommunikation zwischen den Partnern verschlechtert. Die Auswirkungen der psychischen und physischen Belastungen im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung auf die Paarbeziehung hat Onnen-Isemann (2000, vgl. Kap. 2.1.2) untersucht. Es zeigte sich, dass die Frauen die gesundheitlichen Nebenwirkungen als belastend empfanden. Vielen Männern, die zwar keinen invasiven Eingriff hinnehmen mussten, war die Gewinnung des Spermas durch Masturbation unangenehm. Nach dem ET war besonders das Warten und die Ungewissheit für die Paare psychisch belastend. Onnen-Isemann (2000) fand heraus, dass dieser Stress vom Paar dann gut bewältigt werden konnte, wenn beide Partner das Ziel, ein Kind zu bekommen, mit ähnlicher Intensität verfolgten und während der Behandlung gemeinsam Stressbewältigungsmechanismen entwickelten.

In Inseminationsfamilien verändert sich nach Hoffmann-Riem (1989, 1990) die Komplexität der Familienkonstellation durch das Fehlen der gemeinsam praktizierten biologisch/genetisch-sozialen Elternschaft. Daher müssen sie auch in der Familienbiografie verschiedene Belastungen und Verunsicherungen bewältigen. Die Partner müssen möglicherweise den Wunsch nach einem Kind aufgegeben, von dem sie genetische und biologische Eltern sind. Dann müssen familiäre Andersartigkeiten, die etwa durch die doppelte Vaterschaft entstehen, in der Familie verarbeitet werden. Es gibt jedoch unterschiedliche Ansichten darüber, ob diese Bedingungen Konsequenzen für die Paar- und Eltern-Kind-Beziehung haben: Artur Schaible (1992) untersuchte zwischen 1985 und 1987 mithilfe psychologischer Tests Ehepaare, die sich mit der DI ihren Kinderwunsch erfüllten. Er suchte nach Hinweisen auf einen übersteigerten pathologischen Kinderwunsch und daraus resultierende Störungen auf die Paar- oder Eltern-Kind-Beziehung. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass die familiären Beziehungen stabil waren und sich der soziale Vater als „richtiger“ Vater fühlte. Die fehlende genetische Verbindung hatte keinen negativen Einfluss auf die Paar- oder Vater-Kind-Beziehung.

Petra Thorn (2008), die sich aus theoretischer und empirischer Perspektive mit Inseminationsfamilien beschäftigt, stellt hingegen fest, dass viele Männer, die nicht biologischer und genetischer Vater sind, Angst davor haben, von ihrem Kind abgelehnt zu werden, weil sie „nur“ der soziale Vater sind. Nach Thorn muss sich besonders der soziale Vater bemühen, die heterogenen familialen Beziehungen zu verarbeiten und das Kind auch ohne genetische Abstammung als sein Eigenes zu betrachten. Erschwerend kommt hinzu, dass der Samenspender in die elterliche und kindliche Lebensgeschichte bzw. in das familiäre Beziehungsgefüge integriert werden muss. Je nachdem, wie die Familien bzw. sozialen Väter damit umgehen, kann es von Vorteil oder Nachteil sein, dass die Samenspenden in Deutschland meist anonym sind. Die ÄrztInnen, nicht die Eltern, wählen den Spender nach äußerlichen Ähnlichkeiten zum sozialen Vater und Gesundheitszustand aus, weitere Informationen werden nicht preisgegeben.

Für Inseminationsfamilien ist ein wichtiges Thema, wie sie gegenüber dem familiären und sozialen Umfeld mit der Spendersamenbehandlung umgehen sollen. Wie Hoffmann-Riem (1989) feststellt, verschweigen viele Paare die Art der Familiengründung. Dies beschreibt Hoffmann-Riem als „Normalisierung als ob“-Strategie. Die Eltern versuchen damit, die Illusion der biologischen und genetischen Vaterschaft gegenüber dem Umfeld aufrechtzuerhalten. Auch Schaible (1992) und Thorn (2008) beobachteten, dass die Paare es bevorzugten, die Art der Familiengründung zu verschweigen. Die DI-Familien hatten Angst davor, aufgrund der Zeugungsart diskriminiert oder geächtet zu werden. Onnen-Isemann (2000), die auch Paare befragte, bei denen die natürliche Reproduktionstriade erhalten blieb (homologe IUS, ICSI, IFV), kam zu dem Ergebnis, dass die Paare gegenüber dem sozialen Umfeld nur teilweise offen mit der Art der Familiengründung umgingen. Unterstützung erhielten sie eher von den behandelnden MedizinerInnen, weniger von FreundInnen. Gegenüber dem familiären Umfeld teilten sich die Paare selten mit. Siegel et al. (2008) stellten fest, dass sich die Paare für eine Tabuisierung gegenüber dem familiären und sozialen Umfeld entschieden, weil sie die Familiengründung als Privatsache ansahen oder sich vor Verurteilungen oder negativen Reaktionen fürchteten.

Mit der Frage, wie die Paare gegenüber dem sozialen Umfeld mit der Zeugung des Nachwuchses umgehen, hängt zusammen, ob auch das Kind aufgeklärt werden soll. Nur etwa ein Prozent der von Schaible (1992) befragten Paare hatte vor, ihr Kind über die Familienbildung aufzuklären, während etwa fünf Prozent das Kind im Unklaren lassen und 94 Prozent dem Kind nicht die Wahrheit sagen wollten. Thorn (2008) stellte fest, dass Paare dann zur Aufklärung des Kindes tendieren, wenn sie gegenüber dem sozialen Umfeld offen mit der Art der Zeugung umgehen. Denn sie haben häufig Bedenken, dass ihr Kind von Außenstehenden von der Spendersamenbehandlung erfahren könnte. Im Zuge der Pluralisierung von Familienformen kann sich neben Sexualität, Liebe und Fortpflanzung auch Heterosexualität und/oder eine Paarbeziehung von der Zeugung von Kindern entkoppeln, wie Sabine Hess (2007) bemerkt. Daraus resultiert, dass sich neue Elternschafts- und Beziehungsverhältnisse entwickeln können.