Info -  Presseberichte - Es geht auch anders *freu*

B

BENNI

Guest
Hallo!

Ich habe hier einen außergewöhnlichen Bericht zum Nachlesen beim Stöbern im Net gefunden, erschienen am 28.02.2004 bei den Aachener Nachrichten. Hilfreich und interessant auch für Neueinsteiger, Zweifler, Kritiker und Hilfesuchende:

Eine bittere Pille für den «Zappel-Philipp»
Aachen. Patrick (Name von der Redaktion geändert) ist so ein Fall: ein Junge, der seine Eltern immer wieder vor unlösbare Probleme gestellt hat. Schon als Kleinkind war er anders als die anderen: wilder, rastlos, nie bei der Sache, manchmal regelrecht aggressiv.

Besuche bei Freunden? Unmöglich, denn man lief immer Gefahr, dass Patrick die Kinderzimmereinrichtung zerlegt. Einkaufen gehen? Ein einziger Stress, denn irgendetwas stellte er immer an.

Mit viel Strenge hat Patricks Mutter versucht, ihrem Sohn Einhalt zu gebieten. Aber dann diese Schuldgefühle: All die schönen Dinge, die andere Kinder unternahmen, musste sie untersagen. Ihre Mutterliebe blieb, so schien es, unerwidert: einfach mal kuscheln, das war nicht drin. Ihr Sohn entzog sich. Es muss die Hölle gewesen sein.

Patrick leidet an ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (siehe unten). Sie wird ihn sein Leben lang begleiten. Er muss Strategien lernen, damit umzugehen.

Dabei hilft ihm ein Medikament, über das in den vergangenen Jahren extrem kontrovers diskutiert worden ist - und immer noch wird: Ritalin. Eltern, die ihr Kind mit diesem Mittel behandeln, wird vorgeworfen, sie wollten ihr Kind «ruhig stellen», damit sie sich nicht ernsthaft mit ihnen beschäftigen müssen.

Von einem Psychopharmakon ist dann die Rede, das zunehmend als Disziplinierungsmittel in der Kindererziehung akzeptiert werde. Tatsächlich ist die Verschreibungsrate des Ritalin-Wirkstoffs Methylphenidat von 1993 bis 2001 auf das 20-fache gestiegen - und hat sich in den vergangenen Jahren noch einmal verdoppelt.

Ist ADHS also doch eine Modekrankheit, ein typisches Produkt unserer hektischen Zeit? Verschreiben die Ärzte nicht doch viel zu schnell dieses Medikament, um den gestressten Eltern zu helfen?

Die Kinderärztin Dr. Reinhild Damen, die Psychologin Kathrin Hoberg und die Sozialarbeiterin Andrea Fliescher schütteln angesichts dieser Diskussion den Kopf. Sie arbeiten im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), direkt gegenüber dem Aachener Klinikum.

Hier erfahren sie täglich, was ADHS für eine Familie bedeutet - ein Teufelskreis aus Überforderung, Vorwürfen und Selbstzweifel. Hier sehen sie, wie die kranken Kinder leiden, weil sie ausgegrenzt werden, weil niemand mit ihnen spielen will, weil sie schlechte Noten in der Schule haben.

Dagegen hilft nur eine früh greifende, verantwortungsvolle Therapie. Und dazu gehört für das SPZ-Team im individuellen Fall auch die medikamentöse Behandlung. Bis Patricks Eltern diesen Weg gegangen sind, hat es lange gedauert. Sie kamen Ende 2000 zum ersten Mal ans SPZ; auf Anraten ihrer Kinderärztin.

Patrick war damals im Kindergarten; das SPZ-Team hatte schnell den Verdacht, dass der Junge massiv an ADHS leidet. Bis die sehr aufwändige Diagnose stand, vergingen Monate. Die Ärzte und Psychologen am SPZ stehen dabei in engem Kontakt mit Kindergarten oder Schule, beobachten das Kind dort, in der Familie und bei Tests in der Praxis; parallel dazu gibt es viele Gespräche mit den Eltern.

Als der Befund stand, setzten Patricks Eltern alle Hebel in Bewegung: Selbsthilfegruppe, die einschlägige Literatur, unendlich viele Gespräche. Doch Ritalin wollten sie ihrem Sohn nicht geben - ein Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt! Sie versuchten es mit Bioresonanz-Therapie und Homöopathie; sie strichen Süßigkeiten von der Speisekarte und versuchten viele andere alternative Metho- den. Doch nichts schlug richtig an.

Große Widerstände

«Was Patricks Eltern da versucht haben, ist nur zu verständlich», sagt die Psychologin Kathrin Hoberg vom SPZ, «hilft aber nicht wirklich weiter». Die Widerstände gegen Ritalin sind eben groß - auch wegen der kontroversen öffentlichen Diskussion.

Patricks Eltern haben sich im vergangenen Herbst für das Medikament entschieden, als ihr Sohn, mittlerweile in der Grundschule, kurz vor dem Zusammenbruch stand. «Er hat nur noch geweint, litt unter größten Selbstzweifeln, wurde als einziger in seiner Klasse nie mit den Aufgaben fertig - und das, obwohl er eine sehr verständnisvolle Lehrerin hat», erinnert sich seine Mutter.

Die Schwierigkeiten waren nicht mehr zu bewältigen. Ende Dezember begann dann im SPZ die Behandlung mit Ritalin. Die Einstellung dauert einige Wochen. Mittlerweile nimmt Patrick das Medikament selbstständig. Mit Erfolg: «Er ist konzentrierter und aufnahmefähig geworden, lässt Erklärungen an sich heran, die ihn früher nie erreicht hätten. Zum ersten Mal findet er tatsächlich die Ruhe, ein Buch zu lesen!»

Am SPZ wird Ritalin nur in Verbindung mit einer umfassenden Therapie verordnet. Die sprunghaft angestiegene Verschreibungsrate erklären die Aachener Expertinnen damit, dass ADHS erst in den vergangenen zehn Jahren richtig diagnostiziert worden ist.

Das Gesundheitsministerium geht sogar von einer «Bedarfsunterdeckung» in Deutschland aus, warnt jedoch gleichzeitig vor der Gefahr von Fehlverordnungen. Denn alle Ärzte dürfen das Medikament verschreiben. Die Gefahr, dass dies geschieht, obwohl die Anwendung gar nicht indiziert ist, ist also nicht von der Hand zu weisen.

Notwendig wären einheitliche Standards zur Diagnose und Behandlung von ADHS - und eine Mindestqualifikation der Ärzte für eine Erstverschreibung des Mittels. Doch da mahlen die Mühlen im Gesundheitswesen nur langsam. Eltern solten sich deshalb nur an einen Art wenden, der auf diesem Gebiet viel Erfahrung hat.

In der Region, heißt es im SPZ, wird derzeit intensiv an einem Netzwerk aus Fachleuten gearbeitet, das die vielen Fälle noch effektiver auffangen kann. Patrick profitiert bereits davon. Irgendwann, so hoffen seine Eltern, wird er seine Krankheit so weit im Griff haben, dass er ohne Ritalin auskommt. Bis dahin wird er die bittere Pille schlucken. Wie sagt es seine Mutter: «Wir erleben unser Kind im Moment ganz neu.»

Von unserem Redakteur Hermann-Josef Delonge (13.02.2004 | 20:00 Uhr)

2004 Aachener Zeitung

s. auch http://www.aachener-zeitung.de/sixc...bild=menue_sport.gif&template=detail_standard

Es ist schön zu sehen, dass es endlich auch einmal einen Journalisten gibt, der verantwortungsvoll recherchiert und objektiv berichtet. Allein dieser regionale Bericht dürfte wenigstens dort für ein Stückchen mehr Akzeptanz und eine etwas andere Sichtweise, was die Medikation betroffener und ordentlich diagnostizierter Kinder angeht, sorgen.
Ein kleiner Anfang ist gemacht und überregionale Zeitungen sollten sich ein Beispiel daran nehmen und nicht immer nur verkaufsqotenorientiert (sensationsgeil weil negativ)berichten.

Nette Grüße,
Benni
 
S

Schnüffi

Guest
:applaus
Danke für den Bericht.

Viele Grüße von Schnüffi
 
S

salido

Guest
Ich finde diesen Bericht total klasse. :applaus :applaus

DANKE BENNI!!!!!!!!!!!

LG

salido
 

Shanny

Mitglied
Tränen in den Augen

Das ist der erste positive Bericht den ICH gelesen hatte...Sonst werden wir Elter immer als Raben Eltern ,unfähig Kinder zu erziehen,dargestellt.

Danke solche Berichte sollte es mehr geben...

Liebe Grüsse Shanny
 
N

Nightlady

Guest
Der Artikel ist wirklich gut geschrieben.
Finde ich klasse,das es auch solche Artikel gibt,wenn auch leider zu wenig.


Gruß Nightlady
 
U

ute heidorn

Guest
Danke Benni, dass du den Bericht für uns hier eingestellt hast. Eine supergute Idee!

Gruß von Ute
 
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