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Reproduktionsmedizin - 2.3 Reproduktions- und Pränatalmedizin

2.3 Reproduktions- und Pränatalmedizin

Einfluss auf individuelle Handlungsspielräume

Im Kap. 2.2.1 wurde aufgeführt, dass man in traditionelle Gesellschaften und ihre Vorgaben hineingeboren wird, während der Individualisierungsprozess auf eine gesellschaftliche Dynamik verweist, die auf der freien Entscheidung des Einzelnen beruht. Dabei stellt die aktive Eigenleistung von Personen ein entscheidendes und notwendiges Merkmal dar. Weil Individuen zunehmend den Status eigenständig handelnder Akteure gewinnen, ergeben sich für sie mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume, Optionen und Freiheiten. Gleichzeitig wird von ihnen verlangt, dass sie langfristig planen, Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsleistungen erbringen, sich den Umständen anpassen, ihren Alltag organisieren, Ziele entwerfen und Hindernisse erkennen. Chancen, Gefahren und Unsicherheiten, die früher im Familienverbund oder in der dörflichen Gemeinschaft definiert wurden, müssen heute vom Einzelnen oder Paar selbst interpretiert werden. Diese Ambivalenzen des Individualisierungsprozesses summieren Beck und Beck-Gernsheim unter dem Begriff „riskante Freiheiten“.

Die folgenden Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf wissenschaftliche Stellungnahmen. Dabei werden zunächst die Thesen in Bezug auf die Erwartungen an die Eltern und die Handlungsspielräume dargestellt, die sich für potenzielle oder werdende Eltern im Zuge der Fortpflanzungstechnologien und vorgeburtlichen Diagnostik ergeben (Kap. 2.3.1). Anschließend werden Thesen zu steigenden Anforderungen an werdende bzw. potenzielle Eltern erläutert. Diese Ansprüche lassen möglicherweise gesellschaftliche Zwänge entstehen, die wiederum die partnerschaftlichen Entscheidungen und Handlungen beeinflussen (Kap. 2.3.2).

2.3.1 Handlungsspielräume und Erwartungen

Die Verfahren der Reproduktionsmedizin können als medizinische Hilfestellung zur Erfüllung eines Kinderwunsches betrachtet werden. Sie stellen damit einen Zugewinn an individuellen reproduktiven Möglichkeiten für ungewollt kinderlose Paare dar (vgl. Kap. 2.1.3). Auch die Regelung zum Schwangerschaftsabbruch suggeriert neue Handlungschancen, wie Ritzinger und Weissenbacher bemerken: Im Paragrafen 218 StGB wurde am 01.10.1995 die embryopathische bzw. kindliche durch eine mütterliche Indikation ersetzt. Vor der Neuregelung rechtfertigten schwerwiegende Behinderungen des Embryos einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 22. Woche, und es bestand eine Beratungspflicht. Heute ist eine Abtreibung erlaubt, wenn der Mutter schwere körperliche oder psychische Belastungen drohen. Die Mutter ist dabei die oberste Instanz, die entscheidet, ob es zum Abbruch kommt oder nicht. Eine Beratungspflicht besteht nicht mehr. Auch die gültige Frist bis zur 22. Woche wurde aufgehoben. Spätabtreibungen sind aber nur gerechtfertigt, wenn der Schaden beim Kind erheblich ist oder wenn die Mutter an Krebs, einem Gehirntumor oder einer Herzerkrankung leidet, wodurch ihr Leben in Gefahr ist.

Beck-Gernsheim (1998) weist darauf hin, dass sich Eltern zwar immer ein möglichst gesundes Kind wünschten. Dieser Vorgang lag jedoch nicht in der Macht der Eltern, sondern war vom Schicksal bestimmt. Erst im Zuge der Entwicklungen im Bereich der Pränatalmedizin sind neue Eingriffsmöglichkeiten entstanden. Vorgeburtliche Diagnostiken können die Handlungsspielräume für werdende Eltern erweitern, wie im Kap. 2.1.5 aufgezeigt wird: So können den Eltern Ängste vor möglichen Erkrankungen und Behinderungen ihres Kindes durch die PND genommen werden, indem diese ausgeschlossen werden. Zudem hat das Wissen um eine mögliche Erkrankung des Kindes den Vorteil, dass sich die Eltern vor dessen Geburt mit daraus resultierenden Problematiken auseinandersetzen oder dass die ÄrztInnen intrauterine Therapien einleiten können. Wird die angestrebte Schwangerschaft durch die Reproduktionsmedizin erreicht, verstärkt sich der Wunsch nach einem Kind, das keine Anomalien aufweist, so Beck-Gernsheim (1998). Die PID mache eine qualitative Auswahl möglich, bei der zwischen Embryonen mit und ohne genetische Fehler unterschieden werden kann. So können sich erblich belastete Paare den Wunsch nach einem gesunden Kind erfüllen. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sieht in der PID auch einen Weg, den werdenden Müttern einen Schwangerschaftsabbruch und damit einhergehende ethische Konflikte zu ersparen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage der deutschen Humangenetik aufgrund der Erfahrungen aus dem Dritten Reich prekär und WissenschaftlerInnen distanzierten sich von den eugenischen Denkmustern. Laut Jürgen Habermas (2001) entwickelt sich im Zuge der Fortschritte in den Biotechnologien eine sogenannte liberale Eugenik. Das, was bislang durch die Natur vorgegeben wurde, rücke in den Bereich zielgerichteter Optionen. Die genetischen Anlagen des Neugeborenen seien nicht mehr zwangsläufig Ausgangsbedingungen für dessen Zukunft, da heute bereits über den Befruchtungsvorgang verfügt werden könne. VerfechterInnen der PID, so Michael J. Sandel (2008), sähen in den Entscheidungen, genetisch defekte Embryonen auszuselektieren frei getroffene Entscheidungen, die nicht eugenisch seien, jedenfalls nicht in einem abwertenden Sinne. Zudem mache es keinen Unterschied, ob man Kinder durch Erziehung oder durch Bioethik verbessere.

Habermas (2001) prognostiziert, dass sich in der Politik und der Öffentlichkeit die Auffassung durchsetzen wird, dass der Einsatz der PID moralisch zulässig und rechtlich hinnehmbar ist, wenn sie sich auf wohl definierte Fälle beschränkt, wie die von erblich belasteten Paaren. Weitere biomedizinische Entwicklungen bedingten allerdings, dass in Zukunft auch genetische Interventionen in Körperzellen oder Keimbahnen zunehmend akzeptiert und erlaubt werden, um z. B. Erbkrankheiten zu verhindern. Die gesellschaftliche Akzeptanz werde in Zukunft steigen, solange die Technisierung mit den Erwartungen eines gesunden und längeren Lebens begründet werden kann.

Sandel (2008) merkt an, dass die Diagnostiken bei den Eltern die Erwartung hervorrufen könnten, über das kindliche Leben herrschen zu können. Somit gehe möglicherweise die Fähigkeit oder Einstellung verloren, den Charakter menschlicher Fähigkeiten als Gabe zu schützen. Sandel (2008) schränkt ein, dass sich Eltern deshalb aber nicht zu DesignerInnen machen oder ihre Kinder in Produkte des Willens oder in Werkzeuge ihrer Ambitionen verwandeln, nur weil sie sich um die Gesundheit ihrer Kinder kümmern. Nicht legitim sei es, wenn Eltern ihre Kinder um jeden Preis optimieren wollen. Eberhard Schockenhoff (2000) schreibt, dass sich der „Angebotskatalog“ der PID in Zukunft vermutlich erweitern werde: Nicht nur genetische Störungen, sondern Eigenschaften wie Haar- oder Augenfarbe, Größe, Körperbau, Intelligenz und Persönlichkeitsmerkmale könnten im Voraus bestimmt werden. In den USA werden z. B. bereits die Wünsche der Eltern zum Geschlecht berücksichtigt. Beck-Gernsheim (1991, 1998) und Jörg Fegert (o. J.) nehmen an, dass die Berichterstattung der Massenmedien über die Möglichkeiten der Medizin auch hierzulande bei den Eltern Erwartungen weckt, dass Embryonen nicht nur nach krankheitsrelevanten, sondern z. B. auch nach äußerlichen Merkmalen selektiert werden dürfen. Fegert (o. J.) weist darauf hin, dass in den ethischen Diskussionen bereits zunehmend Begriffe wie Wunschkind nach Maß, Wunschkindmentalität und Designerkind auftauchen, da die medizinischen Möglichkeiten neue Begehrlichkeiten wecken und die Ansprüche der Eltern gegenüber den ÄrztInnen steigen. Zudem entwickelten Eltern durch die medizintechnischen Angebote, die als Serviceleistungen wahrgenommen werden, zunehmend eine Konsumentenhaltung.