Hallo,
die Frage nach dem "richtigen Lernen" ist wohl kaum weniger umstritten als die Frage nach der "richtigen Religion": In Hamburg sind Eltern für ihre Meinung auf die Straße gegangen, und haben einen Volksentscheid abgehalten, und überall sonst wird ebenfalls über Home Schooling, über Gesamtschulen und über Bildungsgleichheit gestritten. Und falls jemand glaubt, dass die Fachleute sich einig seien: Nö. Sind sie nicht. Jede Meinung wurde von irgend jemandem fachlich untermauert. Und irgendwie scheinen sie auch allesamt Recht zu haben: Können Eltern, die sich kümmern, überhaupt Unrecht haben.
Ich persönlich muss aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung heraus sagen: Ja, es kann passieren, denn neben der schulischen Entwicklung macht ein Kind auch eine sozial-emotionale Entwicklung durch, und beides kann sich gegenseitig behindern, wenn man nicht aufpasst.
Denn:
Ganz gleich, ob wir alle hier der Ansicht sind, dass allein Begabung für die Entscheidung über die weitere Schulform, und damit auch letzten Endes einen erheblichen Teil des Lebensweges, entscheiden sollte, ist das in der Realität nicht so. Würde nur Begabung zählen, sähe die Schullandschaft in Deutschland heute nicht so aus, wie sie aussieht: De Haupt-, die Realschulen wären der Standard, wie sie es in den 50er und 60er Jahren gewesen sind, und der Weg aufs Gymnasium wäre eine einigen wenigen besonders Begabten vorbehaltene Option. Es gäbe dann auch keine Diskussion über Bildungsgleichheit, denn wer begabt ist, ist immer begabt, und nicht nur, wenn die Eltern es fördern, und würde dementsprechend auch ohne elterliche Förderung seinen Weg auf die Große Schul' finden.
Das ist nicht so. Die Bildungskonzepte in westlichen Ländern sehen vor, dass nicht vor allem Begabung, sondern Leistung auf dem Weg zählen, und das wiederum hat dazu geführt, dass den Eltern bei der "Beschulung" (ein entsetzliches Wort) eine besondere Rolle zukommt: Von ihnen wird erwartet, dass sie bei ihren Kindern Leistungsbereitschaft und -fähigkeit schaffen. Denn nur wenn sie dies tun, dann wird es was mit dem Abi.
Aber diese Struktur bietet auch viele Fallstricke für die persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen - denn für sie geht es nicht allein darum, mit möglichst guten Noten ins Leben zu gehen. Sie müssen auch eine soziale und emotionale Entwicklung durch lebt haben, die es ihnen ermöglicht, glücklich und erfolgreich zu leben.
"Unsere Kinder sollen es mal besser haben als wir" - diesen Spruch dürften viele zu Hause von ihren eigenen Eltern gehört haben, nicht nur, wenn es um das eigene Schaffen der Eltern, sondern auch wenn es um die an die Kinder gestellten Leistungsansprüche ging und geht.
Doch dieses Ethos nimmt teilweise irrwitzige Ausmaße an: Die Schullaufbahn zum Abitur wurde in Deutschland um ein Jahr verkürzt, und damit der Leistungsdruck verstärkt, um einem sehr diffusen Streben nach internationaler Konkurenzfähigkeit zu folgen, dass in der Realität keinerlei Bildungsbedeutung hat, weil die allermeisten Schulabsolventen eben nicht mit Absolventen aus anderen Ländern konkurrieren. Man hat damit allerdings auch den Arbeitsmarkt um einige hunderttausend Menschen im Jahr vergrößert, für die es keine Jobs gibt, und die damit auch die Zahl der Sozialleistungsempfänger vergrößert haben. Doch dass allerwichtigste Ergebnis ist: Seit der Einführung von G8 hat die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen erheblich zugenommen, denn nicht wenige halten dem Druck nicht stand.
Doch noch wichtiger als dies ist, weil es einfach unglaublich oft passiert: Wer zu viel Leistung von seinem Kind fordert, der riskiert, dass das Kind sein Vertrauen zu den Eltern verliert, Angst vor ihnen bekommt, und sich irgendwann in der Jugend in zweifelhafte Kreise begibt. Zuviel Leistungsdruck ist sicherlich nicht die einzige Möglichkeit, die dazu führt, aber er ist eine davon.
Eine weitere ist: Wer sich zu stark auf die Leistung seiner Kinder konzentriert, signalisiert auch, dass er enttäuscht ist, wenn die Leistung nicht kommt, aber stattdessen schlechte Noten, oder Noten, die als schlecht empfunden werden. Wenn das Kind Angst vor dieser Enttäuschung, möglicherweise auch vor Schimpfe hat, dann hört es irgendwann auf, sich anzuvertrauen.
Aber am allerwichtigsten ist: Kinder brauchen Freiräume, um sich zu entwickeln. Wenn Kinder spielen, dann lernen sie. Deshalb wurden schon vor Jahrzehnten die Ferien sehr großzügig ausgelegt. Sie sollen der Urlaub der Kinder sein, sollen ihnen die Möglichkeit geben, sich zu regenerieren, und für das Leben zu entfalten.
Es gibt Situationen, in denen auch die Ferien fürs Lernen herhalten müssen, aber man sollte es schonend dosieren - und in der Grundschule und in den ersten Jahren des Gymnasiums darauf verzichten, vor allem, wenn die Noten akzetabel sind. Welchen Sinn macht es, noch bessere Noten zu haben?
Viele Grüße,
Ariel