"Seelenkind"-eine Geschichte zum Trost
November 1983
Oakland, Kalifornien
Colin, mein zwölfjähriger Sohn, ertappte mich an einem verregneten Spätnachmittag Ende Januar am Küchentisch, wie ich ein feuchtes, zerknülltes Kleenex in der Hand hielt, mir die Tränen abwischte und um seinetwillen versuchte, mich zusammenzureißen. Seit meiner Fehlgeburt waren zwei Monate vergangen, aber ich bekam immer noch mindestens einmal am Tag das heulende Elend.
Rog und ich waren wie vor den Kopf geschlagen gewesen, voller Zweifel und zwiespältiger Gefühle, als sich der Schwangerschaftstest als positiv erwiesen hatte. Ich war 41 Jahre alt und mein Beruf nahm mich voll in Anspruch. Ich hatte endlich erreicht, was einige für unmöglich gehalten hatten: Ich war Beleghebamme in der Alta-Bates-Klinik, und folglich florierte meine Praxis. In manchen Monaten entband ich zwölf Kinder, und niemand wusste genau, ob oder wann ich zu Hause sein würde. Auch Rog war ausgelastet: Er musste nicht nur dafür sorgen, dass sein eigenes Geschäft lief, sondern auch noch den Haushalt in Gang halten, der durch meine häufige Abwesenheit vernachlässigt wurde. Colin und Jill näherten sich der Pubertät, ein schwieriges Alter mir Herausforderungen ganz eigener Art. Wie sollte da ein Baby in unser Leben passen? Doch als die Schwangerschaft abrupt endete und alle Hoffnungen sich in Tränen auflösten, verliebte ich mich in das Kind, das nicht sein sollte.
"Weinst Du wegen des Babys?", fragte Colin, und als ich betrübt nickte, meinte er: "Dann musst Du einfach noch eins bekommen, weil es ein Seelenkind ist und du ja seine Mutter sein solltest."
Ich muss ihn wohl verdutzt angeschaut haben, denn er fügte hinzu: "Weißt du nicht, was ein Seelenkind ist? Wieso weiß ich es denn?
Ich meine, du bist schließlich meine Mutter!"
Ich war völlig perplex, hatte keine Ahnung, was er meinte. Deshalb zog sich mein Erstgeborener einen Stuhl heran, setzte sich neben mich und legte mir seinen Arm um die Schulter.
"Ich werde es Dir erklären, Mom. Vielleicht war ich selbst eins und weiß es daher. Jede Frau kann eine bestimmte Anzahl von Babys in ihrem Leben kriegen, und diese Babys bilden einen Kreis, der unsichtbar über ihrem Kopf schwebt. Jeden Monat ist ein anderes Baby an der Reihe; wenn die Frau schwanger wird, wird es geboren. Wenn nicht, kehrt es zu den anderen in den Kreis zurück. Wenn sie schwanger wird, und es passiert etwas Schlimmes vor oder bei der Geburt, kehrt es in den Kreis zurück und wird ein Seelenkind, und alle anderen Babys lassen ihm beim nächsten Mal den Vortritt. Jeden Monat ist es als Erstes dran. Und deshalb musst du wieder schwanger werden, damit du dasselbe Seelenkind noch einmal bekommst. Wenn nicht, wird es einfach in den Kinderkreis einer anderen Frau gebeamt, und dann ist es dort als Erstes an der Reihe. Es bleibt immer irgendwo an erster Stelle, bis es schließlich geboren wird. Aber es wäre traurig, wenn du es nicht bekommst, denn ich weiß, wie gerne du es haben möchtest. Du musst es also noch einmal versuchen. Erinnerst du dich an das Baby, Mom, das du vor meiner Geburt verloren hast?" Ich nickte wortlos. "Das war ich. Wirklich. Ich habe immer gewusst, dass ich ein Seelenkind bin. Ich weiß genau, wovon ich rede, Mom."