banner-elternforen-1
  • Kategorien

  • Archive

  • ANZEIGE: Home » Ernährung » Du bist nicht schuld! Übergewicht bei Kindern als familiendynamisches und soziales Phänomen

    Du bist nicht schuld! Übergewicht bei Kindern als familiendynamisches und soziales Phänomen

    Wenn es um Krankheiten und Abnormalitäten geht, dann neigt man doch des öfteren dazu, die dahinterliegende Probleme zu individualisieren. Der- oder diejenige sei doch im Grunde selbst schuld, sei zu faul. Man tut dann so, als wären Betroffene für ihre Situation in vollem Maße selbst verantwortlich und als könnten sie diese von heute auf morgen per Entscheidung einfach ändern – als müssten sie es nur wollen. Die Realität sieht da jedoch ganz anders aus. Krankheit und Abweichung sind nie nur individuelle Phänomene, sondern entstehen im Zusammenspiel familiendynamischer sowie sozialer Faktoren. Bei keiner Erkrankung ist dies derart virulent, wie beim Übergewicht. Übergewichtige Menschen werden als bewegungsfaul stigmatisiert; vor allem Kinder werden von Peers sowie von Lehrern diskriminiert und für ihre Situation alleinig verantwortlich gemacht, was das Problem umgekehrt natürlich noch weiter verstärkt. Doch wie entsteht Übergewicht bei Kindern genau? Welche Rolle spielen Familie und Gesellschaft dabei?

    Übergewicht nicht bloß auf Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung rückführbar

    Die Ursachen für Übergewicht sind sehr vielschichtig. Zwar kommt es zu einer Gewichtszunahme grundsätzlich vor allem dadurch, dass man sich ungesund ernährt und zu wenig bewegt. Doch die Ursachen dafür, warum man solche ungünstigen Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten überhaupt hat, liegen weitaus tiefer. So weiß man heute, dass solche Gewohnheiten und damit verbunden Übergewicht vor allem in sogenannten bildungsfernen Familien vermehrt auftritt. Dies haben beispielsweise Forscherinnen und Forscher des Forschungsverbundes PreVENT, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, festgestellt. Kinder von Alleinerziehenden sowie Kinder mit Migrationshintergrund haben ebenfalls ein höheres Risiko übergewichtig zu werden. Ähnliche Muster kennt man auch bereits aus der Sportaktivitätsforschung: Menschen mit geringem Bildungsgrad treiben weniger Sport – und das sowohl in der Kindheit und Jugend als auch im Erwachsenenalter. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sein Leben lang Sport treibt nimmt entsprechend zu, je höher sein sowie der Bildungsgrad seiner Eltern ist. Schließlich werden diese Befunde aber auch von der Altersforschung bestätigt: Menschen mit einer höheren Bildung gehen einem grundsätzlich gesünderen Lebensstil nach und werden im Schnitt älter als Menschen mit geringer Bildung.

    All dies hat viel mit ökonomischen Aspekten zu tun. Natürlich haben Menschen mit einer höheren Bildung auch ein höheres Einkommen und können sich daher auch hochwertigere Lebensmittel genehmigen. Auch können sie sich bestimmte Geräte, die zur Gesundheitserhaltung und -überwachung wichtig sind, wie etwa eine Personenwaage, eher leisten. Schließlich, und das ist der wichtigste Punkt, verfügen sie aber ebenfalls über ein umfassenderes Wissen bezüglich Ernährung und Bewegung, das sie von ihren Eltern qua Sozialisation vermittelt bekommen haben und das sie auf dieselbe Weise eben auch an ihre eigenen Kinder weitervermitteln.

    Soziale Ungleichheit als wesentlicher Faktor für Übergewicht

    Es zeigt sich also, dass ökonomische Faktoren und die durch sie mit produzierte soziale Ungleichheit eine große Rolle bei der Entstehung ungesunder Lebensstile und damit mitunter auch von Übergewicht spielen. Kinder aus ökonomisch schlechter gestellten Familien sind nicht etwa weniger intelligent als ihre besser betuchten Peers, sondern wachsen schlichtweg in einer anderen Wissens- und Lebensumgebung auf. Sie übernehmen Routinen ungesunden Essverhaltens und entwickeln Übergewicht ohne, dass sie es irgendwie direkt beabsichtigen würden.

    Doch genau das wird ihnen gesellschaftlich oftmals unterstellt, wodurch das eigentliche Problem nicht angegangen, sondern verschlimmert bzw. verlagert wird. Nicht selten wird sogar der Wissensmangel selbst als etwas Selbstverschuldetes dargestellt, nach dem Motto: „Wenn sie wollten, dann könnten sie sich das Wissen ja aneignen und dann entsprechend gegen ihr Übergewicht vorgehen“. Dem ist natürlich nicht so. Denn Kinder von hochgebildeten Eltern bekommen dieses Wissen gleichsam automatisch, naturwüchsig mit, während Kinder aus bildungsfernen Haushalten es weder explizit vermittelt kriegen, noch über die Ressourcen finanzieller oder sprachlicher Art verfügen, um es sich im Alleingang anzueignen. Stattdessen bedürfen sie in dieser Hinsicht der Unterstützung, um den „Vorsprung“, den Kinder aus bildungsnahen Familien ihnen gegenüber in dieser Hinsicht nun einmal haben, aufholen zu können. Hier ist im Übrigen ebenfalls darauf hinzuweisen, dass auch Lehrer die soziale Ungleichheit reproduzieren können, indem sie nämlich Kinder aus bildungsfernen Familien – größtenteils völlig unbewusst – benachteiligen, weil sie beispielsweise ihre, gegenüber den Kindern aus bildungsnahen Familien als einfach erscheinende Sprache als Ausdruck geringerer Leistungsfähigkeit bzw. Intelligenz betrachten. Der Graben der sozialen Ungleichheit wird dadurch noch größer.

    Natürlich darf man aber auch nicht die Familiendynamik als solche bei der Entstehung von Übergewicht aus den Augen lassen. Denn viele familiäre Konflikte werden von Kindern beispielsweise durch ein ungezügeltes Essverhalten bearbeitet, was eben zu Übergewicht oder sogar zu Adipositas führen kann. Auch hier hat man es also nicht mit einem gänzlich individuellen Problem zu tun, sondern mit einer das einzelne Kind übergreifenden Dynamik. Das sollte man folglich beim Thema „Übergewicht“ – besonders bei Kindern – stets mitbedenken.